Dornteufel: Thriller (German Edition)
Zeit wieder Vögel zwitschern. Sie schaute aus dem Küchenfenster und bemerkte Inseln von Krokussen, die sich scheinbar über Nacht durch den spärlichen Rasen am Kanalufer ans Tageslicht gekämpft hatten, wo sie nun dem kühlen Wind trotzten, der über das dunkle Wasser strich. Im Radio lief N-Joy ; Sonja hatte Franzbrötchen zum Frühstück besorgt und einladend auf den Küchentisch gelegt, zusammen mit einem Umschlag, in dem sich die zwei Karten für die heutige Veranstaltung befanden: Die Spendengala zugunsten von Hanseatic Real Help . Tisch neun, ganz nah an der Bühne, hatte Sonja ihr freudig versichert.
Julia öffnete den Umschlag und sah sich die Karten an. Der Text war in goldener Schrift auf dickem, samtigem Karton gedruckt – alles auffallend hochwertig. Unwillkürlich fragte sich Julia, wie viel die Leute denn ausgeben und spenden mussten, damit allein die Kosten für die Veranstaltung wieder hereinkamen, ganz zu schweigen davon, dass man noch viel Geld für die Hilfsprojekte erhalten wollte. Sie wusste, dass eine Karte zwischen achtzig und fünfhundert Euro kostete. Dann war für sie wohl einer der Fünfhundert-Euro-Plätze vorgesehen …
Erst jetzt wurde ihr klar, auf was sie sich da eingelassen hatte. Sie war nicht nur Gast, sie hatte Sonja versprochen, sie zu unterstützen, wenn sie ihre Rede hielt, in der auch Kamal Saids Schicksal angesprochen werden sollte. Einzelne Schicksale rührten die Leute eher zu Spenden als nüchtern vorgetragene Zahlen und Fakten … Sie selbst würde kurz auf der Bühne und damit im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit stehen. Als ihr das angetragen worden war, hatte sie gedacht, dass Öffentlichkeit in irgendeiner Form sie schon schützen könnte. Das mochte ja zutreffen. Doch, verdammt, was sollte sie zu einem solchen Anlass anziehen?
Sonja hatte diese Frage schon seit Tagen mit ihr erörtern wollen, aber Julia hatte immer genervt abgeblockt. Sie hatte einen schlichten Hosenanzug tragen wollen, aufgepeppt mit hohen Schuhen und etwas Schmuck. Jetzt, mit den Karten in den Händen, schien ihr das unpassend zu sein. Sonja würde ein langes Kleid aus nachtblauem Satin anziehen, und sie hatte ihre Friseurin für heute Nachmittag herbestellt, um sich von ihr die Haare aufstecken zu lassen. Würde sie sich da in ihrem Hosenanzug nicht deplatziert fühlen?
Eine halbe Stunde später stand Julia in einem kleinen Geschäft in Eimsbüttel und probierte Abendkleider an. Sie entschied sich schließlich für ein bordeauxrotes Kleid mit einem netten Rückenausschnitt, eine dazu passende schwarze Clutch und hohe silberfarbene Sandaletten. Warum das Geld nicht ausgeben, solange sie noch welches hatte? Das Leben konnte sehr kurz sein.
In ihren neuen Outfits fuhren Julia und Sonja am Abend zu den Fischauktionshallen am Hafen, wo die große Feier stattfinden sollte. Sie fanden mit Mühe einen Parkplatz und stöckelten dann über das unebene Kopfsteinpflaster auf den Eingang zu. Der Vorplatz war großzügig von der eigens dafür angeworbenen Security abgesperrt. Die Lichter hinter den Fenstern der Fischauktionshallen leuchteten einladend vor der Kulisse des eindrucksvoll dahinströmenden Flusses und der am anderen Ufer liegenden, von Scheinwerfern angestrahlten Docks. Die Menschen strömten paarweise oder in kleinen Gruppen auf den von zwei Feuertonnen flankierten Eingang zu. Auch hier erwarteten sie Security-Mitarbeiter, die in die eine oder andere größere Tasche schauten und die Eintrittskarten kontrollierten.
Kaum war Julia mit ihrer Freundin in den Fischauktionshallen, kamen ihr zweifelnde Gedanken. Wie konnte sie nur hierherkommen und feiern?, fragte sie sich, während ein Kellner mit bodenlanger schwarzer Schürze sie und Sonja zu ihrem Tisch nahe der Bühne geleitete. Sie watete im übertragenen Sinne seit Bihar durch einen Sumpf aus Intrigen und undurchschaubaren Machenschaften eines Kosmetikkonzerns, ihr Leben war dadurch laut Aussage einiger BKA-Beamter in Gefahr, und sie stöckelte hier in einem Abendkleid durch die Fischauktionshallen … Doch die Gefährdung fühlte sich inmitten der festlich gekleideten und überwiegend gut gelaunten Gäste so irreal an wie der Gedanke, dass sich Godzilla gleich über die Hafenstraße hermachen würde …
Julia setzte sich und betrachtete ihre Freundin, die ihr schräg gegenüber Platz nahm. Sonja strahlte. Es war ihr großer Abend, sie hatte einen guten Teil von alldem hier organisiert. Auch wenn Julia immer noch nicht verstand,
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