Dornteufel: Thriller (German Edition)
bleiben, denn würde er weitergehen, bestünde die Gefahr, dass er ihr wahrscheinlich zu nahe käme oder sie sogar überholte.
Julia sah noch einmal unauffällig auf ihre Uhr und ging weiter. Sie betrat die Treppe, die zur U-Bahn-Station Jungfernstieg hinunterführte. Es war exakt sechzehn Uhr vierundfünfzig. Sie ging eilig den kurzen Gang entlang, warf noch einen prüfenden Blick durch die Glastüren, die links in die Europapassage führten. Sie hörte, wie unten die U 1 einfuhr, und beschleunigte ihre Schritte. Julia lief die nächste Treppe hinunter, die sie direkt auf den Bahnsteig der U 1 führte. Es war sechzehn Uhr sechsundfünfzig, wie geplant: Rushhour. Die U 1 in Richtung Norderstedt war gerade abgefahren, die nächste würde in acht Minuten kommen. Julia schlenderte den Bahnsteig entlang, als warte sie auf genau diese U-Bahn. Sie ging immer weiter: an den Säulen mit den sieben »Jungfrauen« vorbei, geschnitzt aus einem alten Eichenstamm, der angeblich bei den Bauarbeiten für die U-Bahn gefunden worden war. Schließlich stellte sie sich in der Nähe der mittleren Treppe, die zu dem unter ihnen befindlichen Bahnsteig führte, zwischen die Wartenden. Unauffällig ließ sie den Blick wandern. Ihr aktueller Verfolger war hier irgendwo. Er hatte sicherlich vor, mit ihr in die Bahn zu steigen, und genau das musste sie vermeiden.
Kurz nach siebzehn Uhr schlängelte sich Julia so schnell und unauffällig wie möglich durch die Menschentraube und lief die Treppe hinunter zum Bahnsteig der S 1, S 2 und S 3, der unter ihr die Linie der U 1 kreuzte. Die S 1 in Richtung Poppenbüttel stand da, wie sie es berechnet hatte. Julia sprang hinein schaute angespannt, ob ihr jemand die Treppe hinunter folgte und noch eilig in die S-Bahn stieg. Doch es kam keiner mehr. Das Warngeräusch erklang, die Türen klappten zu, und die S-Bahn setzte sich in Bewegung.
In Ohlstedt musste sie noch einmal aufpassen, da es theoretisch möglich war, dass ihr Verfolger mit einer U-Bahn hierher gefahren war, um sie abzufangen. Dazu hätte er aber erraten müssen, wo sie hinwollte. Der vordere Zugteil der S 1 fuhr von hier aus zum Flughafen.
Um siebzehn Uhr achtundzwanzig kam Julia am Hamburg Airport an, mehr als rechtzeitig, um für ihren Direktflug nach Toulouse einzuchecken.
Das Gefühl, die Dinge voranzutreiben und nicht mehr nur zu reagieren, löste eine Welle der Euphorie in Julia aus. Egal, was ihr in den Pyrenäen und in St. Bassiès, dieser verdammten Klinik, begegnen würde. Alles schien ihr besser zu sein, als in Hamburg auf den Tod zu warten.
29. Kapitel
S T . B ASSIÈS , F RANKREICH
Rebecca Stern hatte seit vierundzwanzig Stunden nicht mehr in einen Spiegel gesehen. Das Tückische war, dass sie kurzfristig immer wieder vergaß, was mit ihr los war, wenn sie nicht damit konfrontiert wurde. Manchmal geschah dies nur für Sekunden oder Minuten, heute Vormittag jedoch sogar für eine halbe Stunde: Da waren sie durch eine malerische Berglandschaft gefahren, eine schmale Schotterstraße entlang, die sich in Serpentinen bergauf gewunden hatte. Die Erinnerung daran, was mit ihrer Haut passiert war und immer noch passierte, und damit auch an den Grund ihrer Reise traf sie dann jedes Mal umso härter. In unregelmäßigen Abständen betastete sie mit ihren Fingerkuppen das Gesicht. Ihre Haut an Wangen und Stirn fühlte sich trocken und schuppig an, mit kleinen, verhornten Erhebungen darauf. Zu ihrem Entsetzen erinnerte es sie an eine fremdartig aussehende Echse, die ein Freund von ihr in einem Terrarium hielt. Jedes Mal fühlte sie anschließend wieder die Wut und Sekunden später eine bodenlose Verzweiflung in sich aufwallen.
Noël wusste schon, warum er verhinderte, dass sie ihr Spiegelbild sah. Er hatte sich während der Reise hierher zuversichtlich gegeben und beteuert, dass man ihr helfen könnte. Doch sie spürte seine starke Unruhe, die nicht bloß mit der Tatsache zu erklären war, dass seine Geliebte sich langsam, aber sicher in einen Zombie verwandelte. Fühlte er sich etwa für sie verantwortlich? Das wäre eine gänzlich neue Erfahrung, wo doch sonst immer sie diejenige gewesen war, die sich um sein Wohlergehen gesorgt hatte. Aber war seine Zuversicht überhaupt berechtigt? Wenn die Klinik hier und dieser Professor Konstantin, von dem er ihr vorgeschwärmt hatte, wirklich Wunder vollbringen konnten, warum wusste die Welt nicht davon?
Sie hatte in der Privatklinik St. Bassiès ein großzügiges Zimmer mit Blick auf den
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