Dornteufel: Thriller (German Edition)
überzugehen war sowieso undenkbar.
Was hinderte sie schon daran? Sie war faktisch arbeitslos und ohne festen Wohnsitz. Vermutlich hätte dieser Zustand ihr mehr zu schaffen machen müssen, aber es pulsierte wohl noch genug Nomadenblut ihrer Eltern in ihren Adern. Varietékünstler durch und durch, hatten sie trotz unsicherer Engagements und häufiger Ortswechsel immer betont, die Hauptsache sei, dass sie sich und ihr Publikum hätten und gesund wären. Und dann waren sie beide viel zu früh ums Leben gekommen. Betroffen erinnerte sich Julia daran, dass sie den außergewöhnlichen Lebensstil ihrer Eltern in ihrer Jugend abgelehnt hatte. Sie hatte lieber ein normales, ja, langweiliges Leben führen wollen. So wie alle anderen. Auch so wie Sonja? Jetzt war es definitiv zu spät für Gefühle wie Verbundenheit oder Bewunderung für den Mut und die Unabhängigkeit ihrer Eltern. Aber vielleicht sollte sie die Dinge endlich in die Hand nehmen, anstatt sich von Menschen, die sie nicht einmal genau benennen konnte, in Angst und Schrecken versetzen zu lassen.
Bis gestern hatten Abwehr und … ja … Angst ihr Handeln bestimmt. Doch plötzlich fühlte sie eine kühle Entschlossenheit. Sie wollte nicht länger das hilflose Opfer sein, das nicht wusste, wann und wo der nächste Überfall auf sie zu erwarten war. Ein Vorfall wie der gestern auf dem Ponton sollte sich nicht wiederholen. Sie wollte sich nicht ertränken oder gar in Stücke reißen lassen, wie es Sonja und Ferland passiert war. Und aufgehängt an einem Baum im Alsterpark wollte sie auch nicht enden.
Sie brauchte einen Plan.
Nachdem sie alles genau durchdacht hatte, packte Julia eine Umhängetasche mit dem Allernötigsten zusammen. Sie zog Jeans, Stiefel und eine warme Jacke an und verließ das Hotel. Komplett auszuchecken erschien ihr wegen ihres großen Gepäcks, des beweglichen Teils ihres Hausstandes sozusagen, und auch wegen des damit verbundenen Aufsehens an der Rezeption nicht ratsam.
In der Hotellobby war tagsüber eine Menge los. Julia musterte all jene, die mit zu viel Zeit und ohne erkennbare Aufgabe herumlungerten. Inzwischen war sie sich so gut wie sicher, dass sie auch hier beobachtet wurde. Vom BKA? Oder von ihren Verfolgern, wer auch immer sie waren? Sie hätte die Polizei ja gern von ihrer Reise nach Frankreich in Kenntnis gesetzt, aber sie wusste nicht mehr, ob sie ihr trauen konnte. Ferlands Schicksal ließ sie vermuten, dass es irgendwo im Polizeiapparat eine undichte Stelle gab. Sonst hätten ihre Verfolger wohl kaum von Ferlands Anwesenheit in Hamburg und seinen Nachforschungen gewusst. Es konnte schließlich kein Zufall sein, dass er an eine der schwer zugänglichen Karten für die Gala gekommen war – und dann auch noch ausgerechnet an ein Ticket für den Todestisch neun. Julia nahm an, dass man ihm, nachdem sein Interesse an Renards Tod und den Zusammenhängen bekannt geworden war, gezielt eine Einladung hatte zukommen lassen: eine Eintrittskarte in den Tod. Also keine Polizei. Sie würde allein ihren Verfolgern nachstellen.
Julia verließ das Hotel durch den Haupteingang und marschierte zu Fuß in Richtung Alster. Das Wetter war kühl und trocken, der Himmel leicht bedeckt. Sie unterdrückte den Reflex, schnell zu gehen oder sich umzuschauen. Dafür sah sie in regelmäßigen Abständen auf die Uhr. Sie hatte einen Zeitplan ausgearbeitet, den sie einhalten musste. Wenn ihre aktuellen Verfolger auch nur halbwegs professionell arbeiteten, würden sie sich abwechseln. Wer auch immer ihr vom Hotel aus nachgegangen war – ein paar Kilometer weiter hatte er sicherlich diesen Job einem anderen Kollegen übergeben. Allerdings musste sie wissen, wie derjenige aussah, der ihr in die U-Bahn-Station nachfolgen würde.
Sie überquerte die Straßen, um auf der der Binnenalster abgewandten Seite weiterzugehen. An einem Schaufenster stoppte sie und sah dann kurz über ihre Schulter. War es der ältere Herr mit dem Gehstock? Oder die zwei jungen Typen mit Baggyjeans und Basecaps auf dem Kopf? Etwa die junge Frau in dem rosafarbenen Trenchcoat? Unwahrscheinlich. Da sah sie ein Stück weit hinter ihr einen Mann, der sich die Schaufenster eines Trachtenladens ansah. Er trug Jeans und einen Parka, hatte dunkles, kurzes Haar und führte einen kleinen Rucksack bei sich. Er wirkte … unauffällig, doch sein vorgebliches Interesse an bayerischen Dirndln und Lederhosen passte überhaupt nicht zu seinem Äußeren und verriet ihn. Er musste wohl dort stehen
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