Dornteufel: Thriller (German Edition)
schwer schätzen, und so unterernährt und mitgenommen, wie die meisten Flüchtlinge waren, sahen sie entweder jünger oder viel älter aus. Er selbst mit seinen siebzehn Jahren wurde immer für wesentlich älter gehalten, als er war. Das lag wohl auch daran, was er alles in den letzten zwei Jahren in Afghanistan erlebt hatte. Navid kam aus einem kleinen Dorf im Iran; das hatte er ihm erzählt, als das Fieber ihn noch nicht so geschwächt hatte.
Kamal erhob sich und wankte zwischen den Kisten und den beiden Motorrädern im Container zu Navid hinüber. Inzwischen musste er sich nicht mehr ausschließlich auf seinen Tastsinn verlassen, denn seine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Allein durch das wenige Licht, das durch die Ritzen drang, konnte er bei Tag Umrisse sehen. Sein Mitflüchtling lag auf einigen Packdecken und rührte sich nicht. Kamals Herz klopfte, als er sich zu ihm hinunterbeugte.
Navid atmete leise und pfeifend. Er lebte noch, immerhin.
Kamal berührte den Jungen am Arm und zuckte sogleich erschrocken zurück, weil sich die Haut heiß und feucht anfühlte. Wenn er selbst schon durstig war, wie musste es dann einem Fieberkranken ergehen? Kamal holte den Wasserkanister, wog ihn in der Hand. Halb voll … höchstens. Er hatte Navid gestern davon zu trinken gegeben, und da sie keine Becher hatten, war es schwer zu sagen, wie viel er in sich hineingeschüttet hatte. Kamal selbst hatte höchstens einen Liter zu sich genommen. Nach dem Schlafen müsste er eigentlich Wasser lassen, aber er verspürte nicht den Drang dazu. Einerseits war das gut, denn in ihrem Containergefängnis stand ihnen nur ein Eimer in der hintersten Ecke zur Verfügung, der jetzt schon erbärmlich stank. Andererseits zeigte das an, dass sein Körper bereits unter Wassermangel litt und seinen Nieren befahl, die Flüssigkeit im Körper zu halten. Und in der Villa Azadi hatten sie noch gedacht: Wenn sie erst einmal auf dem richtigen Schiff sein würden, vorzugsweise in Richtung Nordeuropa, wären die größten Probleme überwunden. Wie die meisten Flüchtlinge in der Villa Azadi war er auf einem Paddelboot aus der Türkei gekommen. Er hatte es schon beim dritten Versuch geschafft und das Glück gehabt, nicht zu ertrinken oder erschlagen oder zurück nach Afghanistan abgeschoben worden zu sein. Doch Griechenland war nur eine Zwischenstation: Die Asylanerkennungsrate lag dort unter 0,05 Prozent. Außerdem dauerte das Warten auf einen Bescheid oft mehrere Jahre.
Navid stöhnte und wachte auf. Der Junge sagte etwas, das Kamal nicht verstand. Seine Stimme wurde lauter. Er wiederholte die unbekannten Worte.
»Psst!«, zischte Kamal beunruhigt. »Sei ruhig. Be quiet! «
Navid starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Das Weiß seiner Augen leuchtete in der Dunkelheit.
Kamal lauschte angespannt, doch bis auf die regelmäßigen Motor- und Wassergeräusche vernahm er nichts. Es war unwahrscheinlich, dass jemand sie draußen auf dem Schiff hören konnte. Es würde sie vielleicht selbst dann niemand hören, wenn sie es darauf anlegten. Und dieser Gedanke war noch beängstigender.
P ATNA , B IHAR , I NDIEN
Das Hochzeitsbüfett war auf zwei Tischreihen angerichtet, die sich in rund vier Meter Entfernung gegenüberstanden. Julia schätzte, dass sie jeweils fünfzehn Meter lang waren. Eine Versuchung aus hundert Millionen Kalorien. Auf beiden Seiten waren exakt die gleichen Speisen arrangiert, so als wäre das Büfett gespiegelt. Dahinter standen ganz in Weiß gekleidete Köche und füllten den Gästen die Teller.
»Das Büfett ist in viele verschiedene Themen unterteilt«, erklärte Parminski ihr. »Es fängt vorne mit der indischen Küche an, dann folgt eine kulinarische Reise rund um unseren Planeten.«
»Das wäre doch nicht nötig gewesen«, sagte Julia und sah an sich herunter, um festzustellen, wie viel Raum ihr Kleid unterhalb der Taille bot.
»Es war zugegebenermaßen nicht meine Idee«, bekannte er. »Aber sie hätte von mir sein können.« Mit begierigen Blicken schlenderte er auf die Speisen zu.
Nach ihrem dritten Gang zum Büfett lehnte sich Julia erschöpft in den weichen Polstern ihres Gartenstuhls zurück. Vor ihr glitzerte die türkisblaue Fläche des Pools, und rundherum saßen die festlich gekleideten Hochzeitsgäste in kleinen Gruppen an den Tischen. Sie aßen und tranken, als gäbe es kein Morgen. Parminski stellte sich als amüsanter Gesprächspartner heraus. Serail Almond entkommen, fiel der Security Officer
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