Dornteufel: Thriller (German Edition)
Freiheit geschmeckt hatte.
A N B ORD DER A URORA
Kamals Zunge war geschwollen, und sein Mund fühlte sich an wie mit Watte ausgestopft. Sein Gesicht spannte, als hätte er den ganzen Tag in der Sonne gearbeitet. Navid hatte den Kanister so gut wie leer getrunken. Ansonsten war da nur noch der Eimer mit dem Urin. Wie schlimm stand es um ihn, dass er daran dachte? Noch schüttelte es ihn, aber wenn der Durst schlimmer wurde … Er wusste, er würde seinen Ekel überwinden. Er brauchte Flüssigkeit.
Was ihm ebenso Angst machte wie der Mangel an Trinkwasser, war, dass sich in den Geruch nach Schweiß und Benzin etwas Süßliches, Krankes gemischt hatte. Es konnte das Blut aus Navids Wunde sein, es konnte die Wunde selbst sein. Wie sollte er das wissen, wenn er kaum etwas sehen konnte?
Fauliges Fleisch – so roch es.
5. Kapitel
P ATNA , B IHAR , I NDIEN
Womit Julia nicht gerechnet hatte, war der gewaltige Lärm. Als sie das Hotel hinter sich ließen, schien Indien sie wie eine gigantische Welle zu überrollen. Es war nicht nur warm und überfüllt, voller fremdartiger Gerüche und grell leuchtender Farben, sondern auch extrem laut. Überall hupte, ratterte, piepte, plärrte und quietschte es. Was sie besonders befremdete: Während sie mit Parminski durch die Stadt schlenderte und sich staunend umsah, bestaunte man auch sie. Inder starrten sie an, junge Frauen mit langen schwarzen Zöpfen stupsten sich gegenseitig und kicherten. Kinder aller Altersgruppen liefen ihnen hinterher und lachten.
»Hab ich mich am Büfett mit Soße bekleckert?«, fragte Julia und sah an sich hinunter.
»Es ist die helle Haut«, erklärte Parminski. »Und dein rötliches, lockiges Haar. Das macht dich hier zu einer Sensation.« Er grinste.
»Ich hab keine roten Haare.« Sie fasste sich prüfend in den Nacken, um zu fühlen, ob sich noch nicht zu viele ungebärdige Locken aus ihrer Frisur gelöst hatten. Es war so warm hier, dass sie ihr Haar nicht mehr offen tragen mochte. Trotzdem erregte sie offensichtlich Aufsehen. Ein Rikschafahrer hielt sogar vor ihnen an, damit seine Fahrgäste Julia fotografieren konnten. »Ein Hauch von Kastanienbraun, allerhöchstens …«, räumte sie ein.
Sie besichtigten einen Sikh-Tempel aus weißem Marmor, schlenderten über einen Markt und sahen sich den Golghar an, einen Getreidespeicher aus dem achtzehnten Jahrhundert, von dessen Spitze man einen wunderbaren Blick über Patna und den Ganges hatte. Zum Schluss landeten sie in einem Kellerrestaurant, wo Parminski und Julia die einzigen Europäer weit und breit waren. Irgendwie schaffte er es, den Wirt zu bestechen; jedenfalls blieben sie in dem Laden von Fotowünschen und allzu lästiger Neugierde unbehelligt. Sie saßen auf einfachen Holzbänken, Seite an Seite und Rücken an Rücken mit den anderen Gästen, und tranken schäumenden Chai, einen indischen Gewürztee. Parminski wollte sie überreden, die zahllosen Süßspeisen zu probieren, für die Patna berühmt war. Doch Julia war noch zu satt vom Hochzeitsbüfett und ließ sich etwas einpacken. Gegen Mitternacht gingen sie zurück zum Hotel.
Gerade als sie die mehrspurige Straße vor dem Hotel überquerten, fuhr ein großer Wagen mit aufheulendem Motor aus einer nahe gelegenen Ausfahrt und bog rücksichtslos in den dichten Verkehr ein. Die hintere Tür flog auf, und Julia sah etwas Helles auf die Straße fliegen. Sie hörte einen dumpfen Knall und das Knirschen von Metall und Glas, dann spürte sie, wie Parminski sie am Ellenbogen packte und sie zurückriss. Die Fahrzeuge in der Nähe bremsten; einige von ihnen stießen zusammen und verknäuelten sich ineinander. Das daraufhin einsetzende Hupen war ohrenbetäubend. Julia und Parminski schlängelten sich durch die zum Stehen gekommenen Autos, Fuhrwerke und Rikschas zum Unfallort. Dort hatte sich bereits eine Menschentraube gebildet, dennoch konnte Julia erkennen, dass jemand am Boden lag. Sie erblickte ein weißes, blutdurchtränktes Hosenbein und einen Fuß ohne Schuh …
Ein Mensch war direkt vor ihren Augen überfahren worden. Julia hatte ihn nicht über die Straße gehen sehen. Wo war er so schnell hergekommen? Oder war er aus dem Wagen gefallen? Vielleicht sogar gestoßen worden? Das Unfallfahrzeug stand mit offener Fahrertür da, keiner saß mehr drin. Der Fahrer befand sich sicherlich unter den Menschen, die sich um das Unfallopfer drängten.
»Tust du mir einen Gefallen?«, sagte Parminski, der blass geworden war. »Geh in die Hotelhalle
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