Dornteufel: Thriller (German Edition)
Hundertjährige aussehenden Toten in der Rechtsmedizin handelte es sich tatsächlich um ihre zweiundzwanzigjährige Schwester Moira. Rebecca Stern hatte sich im Newton Hotel in der Broadway Avenue einquartiert, weil es in der Nähe des Apartments ihrer Schwester in Harlem lag. Nun stand sie also vor der Aufgabe, die Wohnung aufzulösen.
Rebecca hatte sich beim Frühstück vorgenommen, alle Sachen dort gründlich durchzugehen. Nach Moiras überstürztem Aufbruch aus ihrer Wohnung in Paris hatte Rebecca ein paar Dinge vermisst. Sie konnte sich natürlich irren; ja sie wünschte sich sogar, dass sie sich irrte. Und es ging ihr auch nicht um Kosmetika und die paar teuren Strümpfe, die fehlten: Das war Kleinkram. Aber die Ohrringe mit den Südseeperlen, die auf ihrem Nachttisch gelegen hatten – die hatten sich doch nicht einfach in Luft auflösen können? Vielleicht fand sie ja dieses wertvolle Geschenk ihrer Großmutter in Moiras Sachen. Und wenn nicht … Sie musste in jedem Fall alles einmal in Ruhe sichten, um zu entscheiden, was sie behalten und was sie gegebenenfalls spenden oder verkaufen wollte. Um den Rest würde sich dann ein Unternehmen für Haushaltsauflösungen kümmern, das sie beauftragen wollte.
Unter Menschen, beim Frühstück mit Rührei, knusprigem Speck und Bagels, war es relativ einfach gewesen, diese vernünftigen Pläne zu schmieden – die Umsetzung war es weit weniger: Als Rebecca mit dem Schlüssel, den Ferland ihr ausgehändigt hatte, die Wohnungstür aufschloss und eintrat, fühlte sie sich wie ein Eindringling. Der Eindruck, unerwünscht zu sein, verstärkte sich, als sie die Tür hinter sich zuzog. Sie war noch nie zuvor in dieser Wohnung gewesen, und nun ahnte sie auch, warum ihre Schwester sie nie mit hergenommen hatte. Die Behausung war ein Loch: dunkel und beengt; zudem roch es hier muffig, mit einer eigenartigen Unternote, die ihr entfernt bekannt vorkam. Hatte Moira ein Haustier? Oder stammte der Geruch von Ungeziefer? Und das Chaos … War das etwa Moiras Werk? Ihre Schwester war nie die Ordentlichste gewesen, aber das Bild, das sich Rebecca bot, sprengte jeglichen Rahmen. Die Kleidung lag auf den wenigen Möbelstücken verteilt, ein Großteil auf dem ungemachten Bett. Kleider, T-Shirts, Strümpfe und Unterwäsche – alles war durcheinandergeworfen worden. Die Schränke und Schubladen standen offen, und wo noch etwas drin war, quoll der Inhalt halb heraus. Die Jalousie vor dem einzigen Fenster im Wohnraum war heruntergerissen. Auch der Fußboden war mit Moiras Besitztümern bedeckt, sodass Rebecca die Farbe des verschlissenen Teppichbodens kaum erkennen konnte. Da es muffig roch, wollte sie das Fenster öffnen, aber sie konnte nirgendwohin den Fuß setzen, ohne etwas zu beschädigen. So stand sie wie gebannt da. Sie hörte unter sich den Verkehr rauschen – außerdem Sirenen, Hupen und über ihrem Kopf das Geratter eines Hubschraubers. Das war es! Die Polizei hatte die Wohnung durchsucht. Sie spürte Wut in sich aufwallen, vor allem darüber, wie man mit dem Besitz einer Toten umgegangen war.
Sie hörte ihren gepressten Atem. Im Mietshaus selbst war es totenstill. Gingen die Bewohner etwa alle einer geregelten Arbeit nach, oder lagen sie im Bett und schliefen irgendeinen Rausch aus? Sie musste an Moiras Drogenprobleme denken und an ihre Behauptung, sie mittlerweile überwunden zu haben. Amphetamine und hin und wieder etwas Koks, hatte sie damals eingeräumt, aber inzwischen sei sie clean. Rebecca war nur allzu gern bereit gewesen, ihr das zu glauben, weil sie ansonsten hätte handeln müssen.
Ein Zimmer mit Kochnische und einem winzigen Bad: Das war Moiras Zuhause gewesen. Ihre Schwester hatte wenig unternommen, um es wohnlicher zu gestalten. Sollte sie so knapp bei Kasse gewesen sein? Sie war doch ihren eigenen Angaben zufolge oft gebucht worden, als Letztes für einen Unterwäsche-Katalog … Die Jobs waren wohl doch nicht so toll gewesen, wie sie anderen vorgemacht hatte.
Rebecca setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, ging um eine Ecke und gelangte so in die Kochnische. Auch hier regierte das Chaos. Doch als sie Nudeln und Frühstücksflocken auf dem Boden verteilt sah, war sie sich sicher, dass weder ihre Schwester noch die Polizei dieses Durcheinander hinterlassen hatten. Jemand war bei Moira eingebrochen und hatte ihre Wohnung durchwühlt. Und das offenbar vor nicht allzu langer Zeit.
6. Kapitel
A N B ORD DER A URORA
Kamals Herz hämmerte, und er hörte
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