Dornteufel: Thriller (German Edition)
Hauseingang ein. Es summte, und das schwere grüne Tor öffnete sich. Rasch trat sie ein. Automatisch ging in der Eingangshalle das Licht an. Normalerweise zog die Hausmeisterin die Scheibengardine an ihrem Logenfenster beiseite, wenn das schwere Tor ins Schloss fiel. Den Bewohnern nickte sie freundlich zu; wenn es ein Fremder war, öffnete sie das Fenster und fragte, wohin er wolle. Warum schaute sie heute nicht heraus? Wahrscheinlich saß Madame Bertrand vor ihrem Großbildfernseher und hatte den Ton voll aufgedreht, oder sie telefonierte mit ihrer schwerhörigen maman .
Das Gebäude war im typischen Haussmann-Stil erbaut, mit hohen Decken und Stuck, sehr charmant und dementsprechend unpraktisch. Im Vorderhaus hatte man irgendwann in den Siebzigerjahren einen Aufzug eingebaut, der aber nicht immer funktionierte. Die Wände des Hauses waren zwar solide gemauert, aber die alten Fenster hatte man bislang leider unangetastet gelassen. Im Winter waren sie ständig beschlagen, und das Tauwasser lief daran herunter … Es war still in der Eingangshalle. So still, dass Rebecca die Tropfen hören konnte, die von ihrem Regenschirm auf die Marmorfliesen fielen. Der Fernseher in der Loge, der kleinen Erdgeschosswohnung der Concierge, lief jedenfalls nicht. Auch kein Radio. Die Stimme von Madame Bertrand, die immer sehr laut mit ihrer Mutter telefonierte, war ebenfalls nicht zu hören.
Rebecca schüttelte ihren Schirm aus und ging zu dem Fenster, hinter dem Madame Bertrand normalerweise ihre Zeit totschlug. Die Gardine war zurückgezogen. Eine Illustrierte lag aufgeschlagen auf dem Tisch, darauf stand ein halb leerer Kaffeebecher mit Lippenstiftabdrücken am Rand. Madame Bertrand bevorzugte helle Pinktöne. Ihr Holzstuhl mit dem dicken Kissen war umgefallen.
»Madame Bertrand?«, rief Rebecca.
Der neue Knüpfteppich, beleuchtet von einer Stehlampe mit geblümtem Stoffschirm, von deren Licht Rebecca Depressionen bekommen würde, war fast fertig. Eine der weißen Gänse hatte rote Punkte. Das war seltsam. Aber die Motive waren immer seltsam.
»Madame Bertrand, sind Sie da?«
Als Rebecca keine Antwort erhielt, klopfte sie gegen die Scheibe. Das Fenster der Loge müsste dringend mal geputzt werden, dachte sie. Was für einen Eindruck sollten Besucher von diesem Haus bekommen? Nicht, dass sie viel Besuch bekam. Nur Noël, wenn er sich in Paris aufhielt, doch er war kein Besuch im eigentlichen Sinne. Er besaß sogar einen Schlüssel. Doch das hatte sich jetzt vielleicht auch erledigt. Nichtsdestotrotz: Da waren braune Spritzer auf dem Glas, ebenso auf der Fensterbank. Sie sollte wirklich mal mit der Hausverwaltung über Madame Bertrands Verhalten sprechen, dachte Rebecca.
Die Tür zu Madame Bertrands Wohnzimmer im hinteren Teil der Loge stand einen Spalt offen. Dort brannte ebenfalls Licht. Sie konnte nicht weit sein.
»Madame Bertrand, ist alles in Ordnung bei Ihnen?«, fragte Rebecca mit noch lauterer Stimme.
Erneut bekam sie keine Antwort. Sie schellte an der Wohnungstür neben dem Fenster und hörte durch die Glasscheibe schwach das melodische Klingeln im Inneren der Wohnung. Es folgten jedoch weder Schrittgeräusche noch irgendwelche Äußerungen, die erklärten, weshalb Madame Bertrand nicht auf Rebeccas Rufe reagierte. Vielleicht war die Concierge ja krank oder ohnmächtig geworden, hatte einen Schlaganfall erlitten oder sich bei einem Sturz den Kopf angeschlagen?
Auf einmal bemerkte Rebecca, dass die Tür gar nicht richtig zugezogen war. Hatte Madame Bertrand kurz ihre Wohnung verlassen, vielleicht, um nach einem der Mieter zu sehen? Normalerweise rechnete Madame Bertrand ständig mit der Schlechtigkeit ihrer Mitmenschen und schloss daher ihre Loge gewissenhaft ab, selbst wenn sie nur kurz durch das Haus ging. Rebecca stieß leicht gegen die Tür, und sie schwang auf. In dem kleinen Raum, der zugleich Küche und Esszimmer war, roch es nach Fisch und Essig.
»Madame Bertrand, sind Sie da? Darf ich reinkommen?« Rebecca rechnete nicht mehr mit einer Antwort. Von der Loge gelangte man durch eine schmale Tür in einen zweiten kleinen Raum, der als Wohn- und Schlafzimmer genutzt wurde. Sie ging durch den vorderen Raum, umrundete dabei den auf dem Boden liegenden Stuhl und betrat das Hinterzimmer. Hier roch es noch unangenehmer. Nach Urin und Exkrementen?
Ihr Blick glitt kurz durch den Raum – und dann entdeckte sie das Entsetzliche: Madame Bertrand lag bäuchlings auf dem Boden, eingequetscht zwischen einem
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