Double Cross. Falsches Spiel
sich auf der Flucht von ihrem Instinkt leiten lassen, wie ein verängstigtes Tier. Sie hatte sich abseits der Straße gehalten und war über die vom Regen überfluteten Wiesen und Felder gerannt. Sie wußte nicht mehr, wie oft sie hingefallen war. Sie war über und über mit Schlamm bedeckt und roch nach fauliger Erde und Meer. Ihr Gesicht, von Wind und Regen gepeitscht, schmerzte, als sei sie geschlagen worden. Und ihr war kalt - kälter als je zuvor in ihrem Leben.
Ihr Ölzeug fühlte sich zentnerschwer an. In ihren Gummistiefeln stand das Wasser, und ihre Füße waren eiskalt. Jetzt erst fiel ihr auf, daß sie ohne Socken weggerannt war. Sie ließ sich auf Hände und Knie fallen und rang nach Atem. Ihre Kehle war wund, und sie hatte den Geschmack von Rost im Mund.
Sie verharrte eine Weile auf allen vieren, bis sie wieder zu Atem kam, dann rappelte sie sich auf und trat unter die Bäume.
Es war so finster, daß sie sich wie eine Blinde in fremder Umgebung mit ausgestreckten Händen vorantasten mußte. Sie war wütend auf sich selbst, weil sie ihre Taschenlampe nicht mitgenommen hatte.
Die Luft war erfüllt vom Heulen des Sturms, vom Donnern der Brandung am Strand und von den schrillen Schreien der Seevögel. Die Bäume schienen jetzt ein vertrautes Muster anzunehmen. Jenny ließ sich ganz von ihrem Gedächtnis leiten wie jemand, der im Dunkeln durch seine Wohnung tappt.
Die Bäume traten etwas zurück. Sie hatte ihr Versteck erreicht.
Sie glitt in die Senke hinunter, setzte sich und lehnte sich mit dem Rücken an den großen Felsblock. Über ihrem Kopf krümmten sich die Kiefern im Sturm, aber Jenny war vor dem Schlimmsten geschützt. Sie holte ihre Kiste aus dem Versteck unter den Kiefernnadeln hervor, entnahm ihr die alte Wolldecke und wickelte sich fest darin ein.
Allmählich wurde ihr wärmer. Tränen rannen ihr über das Gesicht, während sie überlegte, wie lange sie warten mußte, bis sie Hilfe holen konnte. Zehn Minuten? Eine halbe Stunde? Ob Mary wohl noch im Cottage war, wenn sie zurückkehrte? Ob sie verletzt war? Ein schreckliches Bild von ihrem toten Vater erschien vor ihren Augen. Sie schüttelte den Kopf, um es zu verscheuchen. Sie schauderte und zog die Decke noch fester um ihren Körper.
Dreißig Minuten. So lange wollte sie warten. Bis dahin waren die Deutschen bestimmt fort, und sie konnte gefahrlos zurückkehren.
Neumann parkte am Ende des Weges, nahm die Taschenlampe vom Beifahrersitz und stieg aus. Er knipste die Lampe an und ging schnell zwischen den Bäumen hindurch. Er erklomm die Dünen und glitt auf der anderen Seite wieder hinunter. Dann löschte er die Taschenlampe und ging quer über den Strand zum Wasser. Als er den flachen, harten Sandstreifen erreichte, auf dem die Brecher ausliefen, fiel er in Trab und kämpfte mit gesenktem Kopf gegen den Wind an.
Er dachte an den Morgen, als er am Strand gelaufen war und Jenny aus den Dünen aufgetaucht war. Sie hatte so ausgesehen, als habe sie in jener Nacht am Strand geschlafen. Er war überzeugt, daß sie irgendwo in der Nähe eine Art Versteck hatte, das sie immer aufsuchte, wenn es zu Hause Ärger gab. Sie hatte Angst, sie war auf der Flucht, und sie war allein. Sie würde zu dem Platz fliehen, der ihr am vertrautesten war, wie es Kinder häufig tun. Neumann rannte zu der Stelle am Strand, der ihm als imaginäre Ziellinie gedient hatte, und blieb einen Augenblick stehen. Dann ging er durch die Dünen.
Auf der anderen Seite knipste er die Taschenlampe an, entdeckte einen Trampelpfad und folgte ihm. Er gelangte zu einer kleinen Senke, die durch die Bäume und zwei große Felsblöcke vor dem Wind geschützt war. Er leuchtete in die Senke.
Der Strahl erfaßte Jenny Colvilles Gesicht.
»Wie heißt du wirklich?« fragte Jenny auf der Fahrt zum Cottage der Doghertys.
»Mein richtiger Name ist Horst Neumann.«
»Wie kommt es, daß du so gut Englisch sprichst?«
»Mein Vater war Engländer, und ich selbst wurde in London geboren. Meine Mutter und ich zogen nach Deutschland, als er starb.«
»Bist du ein deutscher Spion?«
»So was Ähnliches.«
»Was geschah mit Sean und meinem Vater?«
»Wir benutzten gerade das Funkgerät in Seans Scheune, da kam dein Vater hereingestürmt. Als Sean ihn aufhalten wollte, hat ihn dein Vater erschossen. Catherine und ich haben deinen Vater erschossen. Es tut mir leid, Jenny. Es ging alles sehr schnell.«
»Halt den Mund! Du sollst nicht sagen, daß es dir leid tut!«
Neumann schwieg. Jenny
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