Downtown Blues
Straßen.
»… es lässt sich also ein proportionaler Anstieg des Bandentums nachweisen, der im Bezug zu den Einwandererzahlen aus latein-und mittelamerikanischen Ländern steht, wobei die meisten Delikte im Bereich des Barrios begangen werden. Hier muss man unterscheiden zwischen Bandenrivalität und Handlungen im Zusammenhang mit Drogenabhängigkeit …
… Die Bereitschaft zur Ghettobildung ist unter den illegalen Einwanderern besonders ausgeprägt. Anders als die legalen Übersiedler legt diese Bevölkerungsschicht keinen Wert auf Assimilation. Die im Barrio oder in Chinatown aufgestellten Gesetze werden weitreichend akzeptiert, der von Triaden, Drogenbaronen und Jugendbanden ausgeübte Terror wird fatalistisch ertragen. Diese Einstellung der ›Unregistrierten‹ erschwert die Arbeit der DWNTN-Police, und die Aufklärungsrate von Kapitalverbrechen im Downtownbezirk ist die niedrigste im ganzen Land …«
Prof. Ruth Bernstein und Dr. phil. Ramon Sifuentes: Die Dynamik des Bandentums im Vergleich zur Einwanderungsquote aus den südamerikanischen und asiatischen Ländern, Universitätsbibliothek Stanford, Cal., 2017
Sonderstatus. Er gibt dir Freiheiten, gibt dich zum Abschuss frei. Eigenverantwortung heißt das Zauberwort, in den Straßen der DWNTN heißt es jedoch Überleben.
Dunstiger, braungelber Smog verdeckt die Sonne und die oberen Stockwerke des CF-Gebäudes. Das Heim ist, wo du deinen Dreck liegen lässt. Ich zieh mir die Schutzmaske vors Gesicht. Es ist wieder mal Smogalarm. Als ob sich jemand darum scheren würde. Ich winke dem Rikscha-Mann – einmal Hölle und zurück – nein, nur zu Cats altem Toyota. Auch eine Art von Erbschaft, Dels Informant. Ich fühle, wie mir unter der Maske der Schweiß übers Gesicht läuft, mein erster Tag im Dschungel seit … Ist nicht nur die Hitze, die mich zum Schwitzen bringt.
Hier ist die Grenze zum Barrio, Demon-Revier, von hier bis zur Dreiundsechzigsten im Süden und bis zur Hillside im Osten kontrollieren die Schwarz-Roten das Viertel. Der Pachuco Emilio Juan Sampedro und hundertsiebenundachtzig Gefolgsleute mit Wurfmessern und Reeboks.
Gib mir eine Harley Davidson, gib mir eine Kalaschnikow, und ich bin König der Stadt. »Gib mir Stardust, und ich bin König der Welt«. Worte, mit zittriger Hand an eine Brandmauer geschrieben. Junkies Traum.
Ich will »halt« rufen, will aussteigen, nach Spuren suchen, doch schon ist der Rikscha-Mann vorbeigelaufen. Ausgetretene Nikes – schlapp, klapp, die rechte Sohle ist kaputt – klatschen auf den Asphalt. Schlafwandlerisch umläuft er die Schlaglöcher. Bahnt sich seinen Weg zwischen Kurierfahrern auf Rollerblades und hochbeladenen Lastkarren. Jahrhundertealte Konditionierung.
Der gleichmäßige Takt seiner Schritte macht mich müde – müde und leichtsinnig. Klapp, schlapp, klapp, schlapp. Plötzlich ein lautes Krachen hinter meinem Rücken, gefolgt von wüsten Flüchen und Beschimpfungen. Ich fahre zusammen, ducke mich, greife nach meiner H&K Special und drehe mich vorsichtig um, nichts weiter passiert, nur ein Wasserwagen, der mit einem Dreiradtransporter zusammengestoßen ist und jetzt die Straße blockiert. Ich lehne mich zurück. Die Geräusche der Stadt verschwimmen wieder zu einem Hintergrundrauschen. Erst drei Blocks später bemerke ich die Verfolger. Drei Barrio-Kids in einem Buick mit abgesägtem Dach. Schwarze Sonnenbrillen, wie ein Visier, verstecken harte Kinderaugen. Schwarzgelbe Stirnbänder, zerfetzte Shirts mit Burrito-Logo. Blauer Stahl. Angriff der Killerwespen. Hornissen, hier? Keine Zeit für Fragen.
Ich rolle mich in den Rinnstein der Avenida Daniel Ortega – ahne den kommenden Angriff mehr, als dass ich ihn sehe – reiß mir keuchend die Maske vom Gesicht. Brauche Luft, wo keine Luft vorhanden ist. Was für eine sinnlose Geste. Jeder Atemzug wird zur Anstrengung. Auf die eine oder andere Art – sie bringt dich um, die Downtown.
Der Rikscha-Mann ist wie ein Schatten zwischen den Häusern verschwunden, mit den Graffiti an den Wänden verschmolzen. Jahrhundertealte Reflexe. Auch er sieht, was nicht sichtbar ist.
Eine Salve spritzt über die Straße. Zementsplitter und Glas prasseln auf mich nieder, zerplatzen auf dem Pflaster wie Popcorn. Leere Geschosshülsen tanzen auf dem weichen Asphalt. Dann ist plötzlich alles vorbei. Der Buick fegt um eine Ecke, ist verschwunden, noch ehe ich meine Waffe in Anschlag bringen kann. In der plötzlichen Stille trifft das Quietschen der Bremsen
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