Dr. Bill Brockton - 04 - Todesstarre
zunächst eine knappe Erklärung heraus, dass während einer Routineobduktion im Leichenschauhaus im Universitätskrankenhaus in den sterblichen Überresten von Dr. Leonard Novak, einem ehemaligen Physiker in Oak Ridge, erhöhte Strahlenbelastung gemessen worden sei. Die radioaktive Quelle sei sichergestellt worden, das Leichenschauhaus sei wieder sicher, die Quelle der erhöhten Strahlenbelastung werde derzeit untersucht, und alle, die ihr ausgesetzt gewesen waren, würden sorgfältig überwacht, schloss die Erklärung.
Diese entschärfte Version hielt sich nur bis zu den Mittagsnachrichten. In den Nachrichtensendungen um fünf Uhr nachmittags hatte die Geschichte in den Medien kritische Masse gewonnen. Ein Hubschraubergeschwader verschiedenster Nachrichtenredaktionen kreiste den ganzen Nachmittag über dem Universitätskrankenhaus, um Luftaufnahmen zu machen. Im Sekretariat des anthropologischen Instituts wurde Peggy am Telefon von Reportern bestürmt, die gehört hatten, dass ich zum Zeitpunkt des Vorfalls im Leichenschauhaus gewesen war. Zum Glück hatte ich seit dem Vorfall mehrmals mit Peggy gesprochen, sonst hätte sie womöglich den Journalisten geglaubt, die sie fragten, wie sie sich angesichts meines verfrühten Ablebens im Leichenschauhaus fühle. Ich dachte an Mark Twains berühmtes Bonmot: »Sagen Sie dem Kerl: ›Berichte über meinen Tod sind stark übertrieben.‹ Dann erklären Sie ihm, das seien meine letzten Worte gewesen.«
Während die Geschichte ein Eigenleben entwickelte, fingen Reporter und Nachrichtensprecher an, darüber zu spekulieren, ob Dr. Novak während seiner jahrzehntelangen Arbeit in Oak Ridge so viel Strahlung aufgenommen hatte, dass er selbst zur gefährlichen Strahlungsquelle geworden war. Es war eine medizinische Version des alten Witzes, dass die Einwohner von Oak Ridge im Dunkeln glühen, auf den Emert schon angespielt hatte. Dann spekulierten sie darüber, dass er vielleicht mit Polonium-210 vergiftet worden war wie der ehemalige KGB-Spion Alexander Litwinenko im Herbst 2006. Nachdem eine Parade von Experten widerlegt hatte, dass man bei erhöhter Strahlenbelastung im Dunkeln zu glühen anfing, erkoren die Medien Polonium zu ihrem Hauptverdächtigen. REAC/ TS nahm Blutproben von allen, die sich zur selben Zeit im Leichenschauhaus aufgehalten hatten wie die Leiche – elf weitere Personen – und von den fünf Polizeibeamten, die noch mit am Swimmingpool gewesen waren.
Wie eine Art schleichende Kontamination breitete sich die Polonium-Theorie von einer Nachrichtensendung zur nächsten aus. Polonium-210 sei eine starke Quelle von Alphastrahlung, betonte man in den Beiträgen, und obwohl Alphateilchen die Haut nicht durchdringen könnten – sie würden sogar von Kleidung oder einem Blatt Papier abprallen –, seien die Teilchen gefährlich, wenn sie eingeatmet oder mit der Nahrung aufgenommen würden. Bald konzentrierten die Geschichten sich darauf, wo »das Polonium« herstammen könnte. Anfangs deuteten die meisten Beiträge an, das Polonium könne nur aus Russland kommen, wo fast das gesamte Polonium-210 der Welt produziert wurde. Bald jedoch wiesen kühne Journalisten darauf hin, dass Polonium-210 auch in antistatischen Bürsten vorhanden sei, wie sie von Fotografen und in Dunkelkammern häufig benutzt wurden, um Staub von Kameralinsen und Vergrößerungsapparaten zu entfernen. Die Aufmerksamkeit der Medien richtete sich rasch auf die Staticmaster-Bürste – für 34,95 Dollar bei Amazon.com erhältlich –, die fünfhundert Mikrocurie Polonium-210 enthielt, ungefähr ein Sechstel einer potenziell tödlichen Dosis. Innerhalb weniger Stunden waren sämtliche Staticmaster-Bürsten in sämtlichen Fotogeschäften in Knoxville ausverkauft, denn Journalisten versuchten ihren Einfallsreichtum und ihren Mut dadurch zu beweisen, dass sie eine echte Poloniumquelle erwarben und durch die Luft schwangen. Meine Lieblingsgeschichte war die, wo die Staticmaster-Bürste sich der Linse der Fernsehkamera näherte, immer näher rückte und immer verschwommener wurde, bis die Bürste die Linse schließlich ganz ausfüllte, und zwar in dem Augenblick, da die Reporterstimme verkündete, er werde die finsteren Machenschaften ans Licht zerren.
In den Spätnachrichten auf WBIR ergriff Special Agent Charles Thornton, in marineblauem Anzug und einer geschäftsmäßigen goldenen Krawatte, eng um den Hals geknotet, höchstpersönlich auf einer überfüllten Pressekonferenz das Wort. Obwohl er
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