Dr. Bill Brockton - 04 - Todesstarre
Strukturen, die nicht aus Kalzium oder Muskeln oder Backsteinen oder Brettern zusammengesetzt waren – war bei mir in den Hintergrund getreten, bis auf die finsteren Randbereiche, wo Mord und Totschlag lauerten. Ich wusste zum Beispiel, dass Männer beim Töten eine besondere Vorliebe für Schusswaffen hatten, wogegen Frauen Messer oder Gift bevorzugten (obwohl diese traditionelle Geschlechtertrennung in den letzten Jahren zu verschwimmen schien). Ich wusste, dass Homosexuelle, wenn sie einen Partner töteten, oft zu »Overkill« tendierten, exzessiver, schockierender Gewalt, weit über das hinaus, was notwendig war, um ein Leben zu beenden. Ich hatte gelernt, dass die Chancen, ein Kind lebend wiederzufinden, das von einem pädophilen Sexualstraftäter entfuhrt worden war, nach vierundzwanzig Stunden gegen null tendierten. Der bekömmlichere Teil menschlicher Kultur spielte sich jedoch größtenteils außerhalb meines Gesichtsfelds ab, da mein Gesichtsfeld in der Regel von Bildern ausgefüllt war wie der Kerbe, die ein Messer in den Rippen hinterlassen hatte, oder dem Muster von Brüchen auf einem Schädel, auf den wiederholt mit einem Baseballschläger eingedroschen worden war.
Vor vielen Jahren hatte ich im Hauptstudium an Seminaren in Kulturanthropologie teilgenommen. Ich war, bildlich gesprochen, mit Franz Boas gereist, als er Ende des neunzehnten, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts die fließenden Grenzen und sozialen Einheiten von Indianerstämmen der nordwestlichen Pazifikküste erforscht hatte. Ich hatte Margaret Mead über die Schulter geschaut, als sie in den 1920er-Jahren die freizügige sexuelle Vereinigung von Teenagern auf der südpazifischen Insel Samoa erforscht hatte. Doch Oak Ridge war eine einzigartige kulturelle Schöpfung: eine kleine, geheime, streng hierarchisch organisierte Enklave, in der zehntausende junger Männer und Frauen fast wie Arbeitsameisen in einem Ameisenhügel behandelt worden waren – bis auf eine Handvoll militärischer und wissenschaftlicher Führungskräfte, die den sozialen Status und das geheime Wissen besaßen, das traditionellerweise einer elitären Kaste von Hohepriestern vorbehalten war. Dies war für mich eine Gelegenheit, Oak Ridge durch die forschende Brille eines Anthropologen zu betrachten.
Jetzt nahm mich die seltsame Fallstudie Oak Ridge fast vollkommen gefangen. Seit ich vor wenigen Tagen die Leiche des Physikers aus dem Eis des schlammigen Swimmingpools gesägt hatte, ging Oak Ridge mir in meinen wachen Stunden kaum noch aus dem Kopf und verfolgte mich sogar bis in meine Träume. Wirklich erstaunlich fand ich aber, dass es so viele Jahre gedauert und eine so dramatische Wendung persönlicher Ereignisse erfordert hatte, um mein Interesse zu entfachen. Es war unmöglich, im Osten von Tennessee zu leben und nicht zu wissen, dass Oak Ridge beim Manhattan-Projekt und bei der Entwicklung der Atombombe eine zentrale Rolle gespielt hatte. Genauso bekannt war, dass Oak Ridge in den Jahrzehnten nach Hiroshima und Nagasaki dazu beigetragen hatte, Atome für friedliche Zwecke nutzbar zu machen, etwa in Form von Atomkraft und Radioisotopen für die medizinische Forschung und Behandlung. Über dieses oberflächliche Wissen hinaus hatte ich mir jedoch nie die Mühe gemacht, viel über Oak Ridges Anfänge nachzulesen oder nachzudenken. Als ich jetzt darüber nachdachte, staunte ich ein ums andere Mal darüber, wie tiefgreifend diese kleine Stadt nicht nur die Nation verändert hatte, sondern die ganze Welt. Wie hatte der alte Archimedes noch gesagt? Gebt mir einen festen Punkt im All, und ich werde die Welt aus den Angeln heben. Größer und stärker als die Atomenergie konnte kein Hebel sein – obwohl ein Dichter vermutlich einwenden würde, Liebe oder Hass könnten stärker sein, aber als Wissenschaftler würde ich diese Behauptung als zu abstrakt und wenig überzeugend zurückweisen –, und Oak Ridge war der Ansatzpunkt gewesen, an dem der atomare Hebel angesetzt hatte, um die Erde aus den Angeln zu heben.
Oak Ridge war natürlich nicht die einzige Einrichtung des Manhattan-Projekts. Daneben gab es noch Los Alamos in New Mexico, wo hunderte von Physikern und anderen Wissenschaftlern sich der Aufgabe widmeten, theoretische Physik in praktische Bomben zu verwandeln. Und es gab noch Hanford in Washington, wo riesige Reaktoren – maßstabgerecht vergrößerte Versionen von Novaks Reaktor in Oak Ridge – die entsprechenden Mengen an waffenfähigem Plutonium
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