Dr. Bill Brockton - 04 - Todesstarre
ausstießen. Doch Oak Ridge war die größte Einrichtung, und alles, was in Los Alamos und Hanford geschah, gründete auf den Fundamenten von Oak Ridge. Das allein machte die Stadt zu einem faszinierenden Forschungsobjekt.
Doch da war noch mehr. Etwa der ganze heroische und herzzerreißende Hintergrund zur geheimen Schöpfung von Oak Ridge: der Zweite Weltkrieg. Ich war erst ein Jahrzehnt nach der Kapitulation Deutschlands und Japans zur Welt gekommen, also wusste ich nur, was ich gelesen, gehört und gesehen hatte, und das war nur ein winziger Bruchteil der historischen Aufzeichnungen, Archivbilder und Geschichten aus erster Hand. Doch nach dem, was ich wusste, lagen darin wirklich die besten Zeiten und die schlimmsten Zeiten, das Beste der Menschheit und das moralisch Verderbteste.
Das Ausmaß von Grausamkeit, Leid und Verlust überstieg mein Begriffsvermögen. Die berühmteste Zahl war natürlich sechs Millionen: die Zahl der von den Nationalsozialisten im Zuge von Hitlers »Endlösung« ermordeten Juden. Doch weitere Zigmillionen waren gestorben: vierzig Millionen Zivilisten, hieß es, und fünfundzwanzig Millionen Soldaten. Obwohl rund vierhunderttausend US-Soldaten in dreieinhalb Jahren Krieg getötet worden waren – ein schrecklicher Tribut, sicherlich –, waren die amerikanischen Verluste nur ein winziger Bruchteil aller durch den Krieg zu beklagenden Toten. In China waren dem Krieg fast vier Millionen Soldaten und sechzehn Millionen Zivilisten zum Opfer gefallen, als die japanische Armee eine Schneise der Verwüstung durch das Land gezogen hatte. In der Sowjetunion waren ebenfalls mindestens zwanzig Millionen Menschen ums Leben gekommen, fast ebenso viele Soldaten wie Zivilisten, als die deutsche Armee sich auf ihrem langen und blutigen Russlandfeldzug aufrieb. Zweiundsiebzig Millionen Tote durch Bombardements, Feuerstürme, Massaker, Krankheiten, Verhungern. Wie war es möglich, überlegte ich, dass so viele Menschen in so kurzer Zeit starben, ohne dass das ganze Gefüge der Zivilisation aus den Fugen geriet? Und wie haben die zahllosen trauernden Überlebenden weitergemacht angesichts von so viel Leid?
Als mein Wagen diesmal über den Hügelkamm fuhr und ins Tal von Oak Ridge hinunterrollte, betrachtete ich den Ort mit neuen Augen. Vor einem globalen Hintergrund unerbittlichen, apokalyptischen Sterbens war dieser kleine Ort, der für moderne Augen so beliebig, provisorisch und gewöhnlich wirken mochte, Schauplatz der größten, komplexesten und dringlichsten Unternehmung gewesen, welche die Welt je gekannt hatte. Diese Unternehmung war umso erstaunlicher, als sie ohne Wissen der restlichen Welt vollbracht worden war. Bis ihr Ergebnis heller als tausend Sonnen über zwei Städten in Japan explodiert war.
Leonard Novaks letzte Ruhestätte war kaum einen Steinwurf vom Fundort seiner Leiche entfernt. Die Beerdigung fand in der United Church statt, in Oak Ridge nur Kapelle auf dem Hügel genannt, der kleinen historischen Kirche am Hang direkt oberhalb des Alexander Inns. Es schien ein passender Ort zu sein, um eines der zentralen Wissenschaftler des Manhattan-Projekts zu gedenken. Obwohl Novak schon vor langem in den Ruhestand gegangen war und obwohl Emert gesagt hatte, er sei kein Kirchgänger gewesen, war der Parkplatz neben der Kirche voll. Auch der verblasste Asphalt neben dem verlassenen Hotel füllte sich schnell, auch mit dem einen oder anderen Sendewagen eines Nachrichtensenders. Laut Emert hatte Novak nach seiner Pensionierung ein ruhiges, zurückgezogenes Leben geführt, doch sein bizarrer Tod hatte ihn posthum noch einmal mitten ins Rampenlicht befördert.
Ich parkte vor dem alten Hotel und ging einen Gehweg und eine lange Treppe zur Kapelle hinauf.
Die Kapelle auf dem Hügel war eines der ersten öffentlichen Gebäude, die beim Bauboom während des Krieges errichtet worden waren, und sie hatte ihren Beitrag zu den Kriegsanstrengungen geleistet, indem sie für Gottesdienste verschiedener Glaubensrichtungen und Konfessionen zur Verfügung gestanden hatte: Methodisten, Baptisten, Katholiken, Juden – alle hatten hier während des Krieges ihre wöchentlichen Gottesdienste abgehalten, hatten ihre Gebet- oder Gesangbücher kurz vor der entsprechenden Stunde im Gebäude ausgeteilt und sie nach dem Gottesdienst wieder eingesammelt. Oft sind Kirchen die meiste Zeit leer und ungenutzt, doch diese nicht. Während des Krieges hatte es kaum einen Augenblick am Tag gegeben, in dem nicht jemand
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