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Dr. Bill Brockton - 04 - Todesstarre

Dr. Bill Brockton - 04 - Todesstarre

Titel: Dr. Bill Brockton - 04 - Todesstarre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jefferson Bass
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waren. Trotzdem war mir beim Anblick der Messingurne auf dem Altar ein wenig gruselig. Nach und nach ging mir auf, dass das nicht an dem lag, was in der Urne war, sondern an einer Spur von Aberglauben in meinem Herzen, einer Angst, die in einer dunklen Ecke meiner Psyche keimte. Angst um Garcia und Miranda vielleicht. Das Gefühl, als läge schlechtes Karma in der Luft oder spiritueller Fall-out aus der Vergangenheit, der sich jetzt niederschlug.
    Ich schüttelte die Gedanken ab und konzentrierte mich auf das Lesepult, wo ein alter Mann eine Geschichte über Novaks Zerstreutheit erzählte, die anscheinend legendär war. »Und so steckten wir ihm einen Bleiklotz in die Aktentasche, um zu sehen, wie lange es dauern würde, bis er ihn bemerkte. Es ist ihm nie aufgefallen. Er hat das verdammte Ding monatelang mit sich herumgeschleppt.« Er lachte, und die Gemeinde fiel in sein Lachen ein, freute sich über seine Freude und darüber, dass der Mann die Kühnheit besaß, in einer Kirche »verdammt« zu sagen. Eine der wenigen tröstlichen Seiten des Alters, dachte ich: Man kann so ziemlich alles sagen, was man will, auch Ungeheuerlichkeiten, und die Leute lassen es einem durchgehen oder finden es sogar charmant. Neben mir spürte ich eine leichte Gewichtsverlagerung, dann merkte ich, dass meine Banknachbarin etwas auf ihr Programm kritzelte, mich anstupste und mir ihr Programm augenzwinkernd hinhielt. »Stimmt nicht«, stand da in krakeliger Schrift. »Es war Richard Feynman, der den Bleiklotz durch die Gegend geschleppt hatte, und es war in Los Alamos.«
    Ich lächelte. Ich mochte sie. Sie war geistreich und hatte dazu etwas Subversives. Ihr Gesicht sagte achtzig, genau wie ihre Handschrift, doch das Weitergeben von kleinen Nachrichten sprach von einem schelmischen Schulmädchen.
    Nachdem der alte Kollege noch einige Anekdoten erzählt hatte – einige heiter, andere eher ernst, übernahm ein Pfarrer das Feld, um Novaks Leben und Arbeit in einen philosophischen und theologischen Kontext zu stellen. Er sprach über Wissenschaft und Entdeckungen, über Galileo und Leonardo da Vinci – mit dem Novak sich den Vornamen geteilt hatte –, Kopernikus und Darwin. Er erinnerte uns daran, dass die Neugier unsere Vorfahren einst aus dem Meer aufs trockene Land gelockt hatte. Ich hatte den Verdacht, dass der oben erwähnte Darwin ihm da womöglich widersprochen hätte; ich konnte mich nicht erinnern, in Der Ursprung der Arten viel über Neugier gelesen zu haben. Doch dies war eine Predigt, keine Vorlesung, also genoss ich sie, wenn auch mit wissenschaftlicher Skepsis. Der Geistliche sprach noch eine Weile darüber, dass das Streben nach Wissen den Menschen auszeichnete. »Der göttliche Funke«, nannte er es. »Es gibt keinen helleren Funken als die Atomenergie«, fuhr er fort, um endlich den Bogen zu Oak Ridge und Novak zu schlagen. Er erzählte, wie Novak die Konstruktion und den Betrieb des Graphitreaktors geleitet hatte, wie er im Reaktorkern Plutonium hergestellt hatte, wie er den Schritt gemeistert hatte, der notwendig war, um dieses neue Element zu isolieren. »Die Kraft des Atoms entfesseln«, sagte er dramatisch. »Das Feuer im Herzen des Universums. Wie ein Prometheus des zwanzigsten Jahrhunderts hat Leonard Novak den Göttern das Feuer gestohlen.« Die Frau neben mir atmete scharf aus; es klang überraschend wütend. »Den Göttern das Feuer gestohlen«, wiederholte der Geistliche, und seine Stimme stieg an, als er sich von dem Mythos mitreißen ließ. »Ein kühner Diebstahl, der die ganze Welt verändert hat. Ein gefährlicher Diebstahl. Das Geschenk des Feuers, der Fluch des Feuers.« Er ließ den Blick über die Gemeinde schweifen und streckte die Arme aus, wie um uns zu umfassen. »Mögen diejenigen unter uns, die in dem Licht und der Wärme dieses prometheischen Feuers leben …«, jetzt hob er die Hände zur Decke und den Kronleuchtern dort, die wahrscheinlich mit Atomstrom brannten, »… mögen wir die Weisheit erlangen, dieses Feuer zum Guten nutzbar zu machen. Immer nur zum Guten.« Er stand schweigend da, die Arme immer noch hochgereckt.
    »Oh, bitte. « Wieder im Bühnenflüsterton und überraschend laut in dem Schweigen, das dem großen Finale des Geistlichen gefolgt war. Ich sah, wie sich einige Köpfe zu meiner älteren Banknachbarin wandten, darunter auch der des Geistlichen. Bestürzung und Verärgerung huschten über sein Gesicht, dann sammelte er sich wieder und sagte den Schlussgesang an. Der Text war

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