Dr. Bill Brockton - 04 - Todesstarre
im Programm abgedruckt, das außer mir alle bekommen zu haben schienen. Unter Füßescharren und Geräusper erhoben wir uns, während der Organist eine Strophe spielte, um uns mit der Melodie vertraut zu machen.
Die Musik klang altertümlich und steif, wie etwas aus einem anderen Jahrhundert. Ich war noch nie ein großer Sänger gewesen, also machte es mir nichts aus, dass ich nicht mitsingen konnte. Doch es verunsicherte mich ein wenig, mit geschlossenem Mund und leeren Händen mitten in der singenden Menschenmenge zu stehen. Da spürte ich ein sanftes Stupsen am rechten Ellbogen. Meine Nachbarin schob ihr Programm ein wenig näher. Sie hielt die untere rechte Ecke mit einem knochigen Daumen und dem Zeigefinger gepackt, die Haut papieren und von blauen Adern durchzogen. Sie zuckte leicht mit dem Programm, um anzudeuten, ich sollte die linke untere Ecke festhalten. Es war sicher nicht nötig, dass wir es zu zweit hochhielten, doch das Blatt war wie eine Art Brücke, ein Band zwischen zwei Fremden, die zusammen auf einer Holzbank eingezwängt waren. Es war eine seltsam intime Geste. Zwei Fremde, verbunden durch ein Bindeglied und eine Geschichte mit einer Messingurne und der Asche darin, die einst Leonard Novak gewesen war. Zusammen sangen wir:
Lass Licht uns werden, Herr der Heeresscharen,
lass uns auf Erden Weisheit offenbaren.
Lass Menschlichkeit die Welt hernach regieren,
statt Prahlerei lass Taten dominieren.
In unsere bewegten Herzen pflanze ein,
den Gleichmut, der den Frieden bringt allein.
Mach zu Gesandten uns des neuen Lebens,
zu Advokaten deines hehren Strebens.
Lass Freundlichkeit und Sanftmut jetzt erblühen,
dass wir das Gute auch im andern sehen.
Lass Freundschaft wachsen, die für immer bleibt,
lass Liebe blühn, die alle Angst vertreibt.
Lass Leid und Kriege heut für immer enden
und uns ein neues Los auf Erden hier begründen.
Lass Lieb und Freundlichkeit nun sein hienieden,
schenk deinen ungeratnen Kindern endlich Frieden.
Während der Text des Kirchenliedes in mein Bewusstsein drang, beschloss ich, dem Geistlichen seinen erhitzten Vortrag nachzusehen. Der Beginn des Liedes passte zu seinem Bild vom »göttlichen Funken«, und das Ende, nun, ich fand, es erforderte Mut, die Beerdigung eines an der Entwicklung der Atombombe beteiligten Wissenschaftlers mit einem Appell gegen den Krieg zu beenden.
Halb rechnete ich mit einem Schnauben oder einem zynischen Rippenstoß, als das Lied in so viel Gutherzigkeit endete, doch nichts geschah. Und als die letzten Töne verklangen, schaute ich nach rechts und sah, dass der Frau neben mir, derselben Frau, die eben noch »Oh, bitte« gesagt hatte, die Tränen über die Wangen liefen.
Als der Gottesdienst vorüber war, wandte ich mich ihr zu. »Vielen Dank, dass Sie die Bank und das Programm mit mir geteilt haben.«
»Sehr gern«, sagte sie. »Sie sind Brockton, nicht wahr.« Ich nickte überrascht. »Sie sind der Typ, der den Leichen beim Verwesen zuschaut?«
Ich lachte. »Sie haben eine Art, sich auszudrücken. Woher wissen Sie das? Rieche ich schlecht?«
»Ich habe vor zwei Tagen im Oak Ridger ein Foto von Ihnen gesehen. Kommen Sie, wir gehen zur Hintertür raus. Ich will dem Prediger nicht die Hand schütteln müssen – das wäre uns bloß beiden peinlich.« Sie lotste mich durch eine Tür, die durch eine vollgestopfte Sakristei hinaus in den blassen Sonnenschein führte. Plötzlich blieb ich wie angewurzelt stehen. Keine fünfzig Meter vor uns ging eine Frau die Stufen hinunter und entfernte sich von der Kapelle … Jess Carter, meine tote Geliebte. Jedenfalls glaubte ich, sie wäre es. Ich sah eine auffallende Frau, die Jess’ schwarzes Haar und Jess’ geschmeidigen Körper hatte und sich bewegte wie Jess. Dann drehte sie den Kopf so weit, dass ich erkennen konnte, dass es nicht Jess war. Natürlich nicht: Es war fast ein Jahr her, dass Jess ermordet worden war. Ich hatte in Chattanooga an dem Gedenkgottesdienst für sie teilgenommen, hatte gesehen, wie ihre Asche auf einem Friedhof beigesetzt worden war, und ich hatte auf dem Gelände der Body Farm, da, wo ihr Mörder ihre Leiche hingeschafft hatte, eine Gedenkplatte für sie aufgestellt. Wie hätte Jess in Oak Ridge vor mir einen Hügel hinuntergehen können?
Jemand zupfte mich am Ärmel. Meine Begleiterin musterte mich scharf. »Sie sehen aus, als hätten Sie einen Geist gesehen«, sagte sie.
»Das dachte ich auch eben«, sagte ich. »Oder ich hoffte es. Tut
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