Dr. med. Erika Werner
stotterte die Revierbeamtin. Schweiß stand ihr auf der bleichen Stirn.
»Ich habe direkt ins Herz gespritzt …«
»Sie haben mit der Nadel … da, mit der Nadel … ins Herz gestochen?«
»Ja!«
Katharina Pleuel riß Erika vom OP-Tisch weg. »Sie bringt sie um!« schrie sie. »Und wir sind schuld. Wir haben sie gerufen! Das Aas will sich an uns rächen!«
Sie stieß Erika gegen die weiß gekachelte Wand und holte weit aus, um ihr ins Gesicht zu schlagen. Erika schloß die Augen. Sie wartete auf den Schlag, der sie zu Boden werfen würde. Aber bevor Katharina zuschlagen konnte, hielt die Revieraufseherin ihr den Arm fest.
»Sie atmet wieder!« rief sie. »Das Herz arbeitet wieder!«
Mit starrem Blick sah die Pleuel auf das freier atmende Mädchen. Das bleiche Gesicht wurde ein klein wenig rosig. Der Blutkreislauf war wieder intakt.
Mit der linken Hand riß sie Erika von der Wand. »Was haste da gemacht?« schrie sie ihr ins Gesicht.
»Man nennt das intercardiale Injektionen«, sagte Erika müde. »Fahrt sie ins Bett. Einer muß dabei bleiben … wenn etwas ist, ruft mich wieder … Ich will auch schlafen.«
Wie eine Nachtwandlerin ließ sich Erika zurück in ihre Zelle führen. Dort sank sie auf das Bett, und, angezogen wie sie war, schlief sie ein, schräg über den Decken liegend, die Beine über den Boden schleifend.
Erika Werner wachte auf, weil sie das Gefühl hatte, daß sie jemand anstarrte. Sie schlug die Augen auf und sah in das Gesicht eines Mannes. Mit einem Ruck sprang sie auf. Die Zellentür stand offen, auf dem Gang hörte sie das Reinigungskommando mit den Eimern und Schrubbern klappern. Die rauhe Stimme Katharina Pleuels keifte dazwischen. Es mußte schon später Morgen sein. Niemand hatte sie geweckt. Auf dem kleinen Tisch an der gegenüberliegenden Wand stand ein Teller mit belegten Broten. Wurst und Käse. Eine Kaffeekanne stand daneben, mit einem Kaffeewärmer darüber. Einem bunten, gehäkelten Kaffeewärmer wie zu Großmutters Zeiten.
»Was soll das alles?« fragte Erika. Sie fuhr sich mit den gespreizten Fingern durch ihre zerwühlten Haare und dann über die brennenden Augen.
»Dr. Rumholtz … Sie kennen mich noch? Ich habe angeordnet, daß man Sie nicht weckt. Es war gar nicht so leicht, hier im Zuchthaus einen Kaffeewärmer aufzutreiben. Aber Sie sehen … selbst im Zuchthaus ist nichts unmöglich!«
»Wie geht es der kleinen Heimberg …?« fragte Erika. Sie setzte sich aufs Bett zurück. Auf einmal schämte sie sich. Vor ihrer Anstaltskleidung, ihrem Aussehen, der Zelle, dem Geruch, der in ihr war und aus dem Zimmerklosett stammte, vor dem Makel, der auf ihr lag. Zuchthäuslerin Nr. 12.456. Drei Jahre wegen Tötung einer Schwangeren.
»Dem Mädchen geht es verhältnismäßig gut. Die Infusionen haben gerade noch alles aufgehalten. Und die intercardiale Injektion … Hören Sie mal, warum haben Sie mir nicht bei Ihrer Einlieferung schon gesagt, daß Sie eine Kollegin sind?«
»Ich bin es ja nicht mehr. Man hat mir nach dem Prozeß die Approbation, sogar den Doktortitel aberkannt.«
»Ihre Venennaht war phantastisch, wissen Sie das? Ich habe bereits mit dem Zuchthausdirektor telefoniert …«
»Warum? Wollen Sie die Aufseherinnen noch mehr verärgern?«
Dr. Rumholtz beugte sich zu Erika vor. Sein Blick lag forschend auf ihrem blassen Gesicht.
»Hat man Ihnen Schwierigkeiten gemacht? Sagen Sie es mir!«
»Nein. Nichts …« Erika schüttelte den Kopf. Aber es klang nicht überzeugend. Dr. Rumholtz hörte es heraus. Er war seit vier Jahren Anstaltsarzt, er kannte die Beamtinnen. Immer hatte er sie im stillen bewundert. Wer tagaus, tagein mit Asozialen umgehen muß, wer täglich von ihnen betrogen, belogen und bekämpft wird, wer nur immer das Schlechte des Menschen als Lebens- und Triebelement sieht, dessen Seele verhärtet sich, muß abstumpfen, um das zu ertragen, was man einfach ›Dienst‹ nennt und für den man den Titel ›Justizwachtmeister‹ trägt.
»Ist es die Pleuel?« fragte Dr. Rumholtz.
»Niemand, Herr Doktor.«
Erika stützte den Kopf in beide Hände. Sie vermied es, Dr. Rumholtz anzusehen. Er kam aus einer Welt, hinter der sie selbst die Türen zugeschlagen hatte. Es war ihr, als ströme sein Anzug den leichten Karbolgeruch aus, der über allen Krankensälen liegt. Ihre Nasenflügel bewegten sich schnuppernd … dann hielt sie den Atem an. Es war eine Selbstquälung, die unerträglich wurde.
»Es freut mich, daß es der kleinen Heimberg gut geht.
Weitere Kostenlose Bücher