Dr. med. Erika Werner
kann die Kranke dafür? Nein … ich operiere … Aber nachher …« Ihr Kopf fuhr herum und sah den Zuchthausdirektor an, der auf seinem Stuhl in der Ecke saß.
»Nachher habe ich etwas auszusagen … Ich will die Wahrheit sagen … die Wahrheit …«
Sie drehte sich brüsk ab und winkte der Revierbeamtin zu.
»Narkotisieren Sie!« rief sie. »Lassen Sie wenigstens eine von uns für eine Stunde vergessen, daß es eine Welt und auf ihr Menschen gibt …«
Das Wort Menschen klang so, als spucke sie es aus.
Die Operation verlief ohne Zwischenfälle. Das Einschlagen des silbernen Nagels, durch den die beiden auseinandergebrochenen Knochenteile einen für alle Zeit festen Halt bekamen, geschah mit einer Sicherheit und Ruhe, die Dr. Rumholtz faszinierte. Er war nur der Assistent von Erika Werner … er durfte wie ein Famulus das tun, was sie ihm mit knappen Worten angab. Das schwierige Eintreiben des Nagels, die millimetergenaue Berechnung führte Erika allein aus. Dr. Rumholtz blieb danach nur noch übrig, die Operationswunde zu vernähen, den Sitz des Nagels durch eine Kontrollröntgenaufnahme zu dokumentieren und das Bein wieder in die völlige Ruhigstellung zu bringen.
In der Narkose schnarchend, mit offenem Mund und heraushängender Zunge wurde die Mörderin Friedel Bartnow zurück in ihr immer verschlossen gehaltenes Einzelzimmer gerollt. Es war eins der drei ›festen Zimmer‹ des Krankenreviers … eine Krankenstube, die sich von einer normalen Zelle nur durch das weiße Bettzeug, einen Nachttisch und weiße Wände unterschied. Sonst war alles wie im Block III … die dicke Tür mit der Beobachtungsklappe, das hoch an der Decke liegende kleine, stark vergitterte Fenster, das Holzpaneelbrett, auf dem das Eßgeschirr stand, die Blechbestecke, eine zerfledderte Bibel und die Zuchthausordnung.
Langsam streifte Erika Werner ihre Gummihandschuhe ab, als Friedel Bartnow aus dem OP gerollt war. Der Zuchthausdirektor erhob sich von seinem Stuhl in der Ecke. Er wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. Zum erstenmal hatte er eine Operation gesehen … einen offen gelegten Knochen, den man einfach wie zwei Brettstücke zusammennagelte. Er hatte krampfhaft die Übelkeit heruntergeschluckt, die ihn zeitweilig überfallen hatte. Nun atmete er tief auf, als Dr. Rumholtz das große OP-Fenster öffnete und der Geruch von Blut und Äther von einem frischen Windzug aus dem Raum gefegt wurde.
Sorgsam wusch sich Erika die Hände und Unterarme und hielt sie dann wieder in die antiseptische Lösung, ehe sie sie abtrocknete. Dr. Rumholtz beobachtete sie von seinem Waschbecken aus. Sie war ganz ruhig, ganz gefaßt … zu ruhig fast für den Schock, den sie erlitten haben mußte.
»Wunderbar«, sagte der Oberregierungsrat ehrlich. Er steckte sein schweißdurchfeuchtetes Taschentuch ein und kam mit ausgestreckten Händen auf Erika Werner zu. »Ich verstehe zwar nichts davon … es war meine erste Operation … aber trotzdem: Wunderbar, sage ich! Ich werde das dem Minister melden! Es wird in Ihre Akten kommen. So etwas ist maßgebend für eine frühzeitige Begnadigung.«
»Ich brauche keine Begnadigung mehr, Herr Direktor.« Die Stimme Erikas war ganz klar und leidenschaftslos. Dr. Rumholtz ließ die Seife ins Becken fallen. Seine Finger zitterten so, daß er sie nicht mehr festhalten konnte.
»Wie soll ich das verstehen?« fragte der Zuchthausdirektor verblüfft. Er stand noch immer mit ausgestreckten Händen vor Erika Werner und merkte gar nicht, daß keiner sie ergriff und zu schütteln bereit war.
»Ich bin unschuldig eingesperrt.«
»Aber, aber!« Der Oberregierungsrat verzog das Gesicht. Seit dreißig Jahren hörte er das immer wieder … im ganzen vielleicht bis heute siebentausendfünfhundertmal. »Ihr Urteil –«
»Mein Urteil basiert auf meinem Geständnis. Man hat sich damals nicht die Mühe gemacht, mein Geständnis nachzuprüfen, weil die Person des Mitangeklagten, des Dozenten Dr. Bornholm, über alle Zweifel erhaben war. Aber mein Geständnis war falsch! Ich widerrufe es hiermit! Und ich bitte um Wiederaufnahme des Verfahrens.«
Der Oberregierungsrat ließ die Hände an den Körper zurückfallen und starrte zu Dr. Rumholtz hinüber. »Verstehen Sie das, Herr Doktor?« fragte er konsterniert.
»Ja. Jedes Wort!« Dr. Rumholtz trat an die Seite Erika Werners. »Seit über einer Stunde hat sich hier im Raum eine kleine Welt verändert. Es begann vor der Operation. Eine Zeitung entfiel meiner Rocktasche und
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