Dr. med. Erika Werner
Fräulein Werner hob sie auf. Von diesem Augenblick an erlebten Sie, ohne es zu wissen, ein Erwachen. Eine Illusion brach zusammen … und übrig blieb nur eine solche Hundsgemeinheit, daß alles weitere Schweigen ein neues Verbrechen wäre.«
»Ich verstehe überhaupt nichts mehr!« Der Oberregierungsrat wandte sich Erika zu. »Was ist hier los, Nummer 12.456?«
»Bitte, nehmen Sie ein Protokoll auf«, sagte sie leise.
»Aber – ich bitte Sie …«
»Ich habe Papier und einen Kugelschreiber hier.« Dr. Rumholtz rannte in den Hintergrund. Er zerrte ein Stück Papier von einem Tisch.
»Das ist doch makaber!« rief der Direktor.
»In Gegenwart des Arztes Dr. Peter Rumholtz in seiner Eigenschaft als amtlicher Arzt des Frauenzuchthauses Freienstadt und des Direktors des Zuchthauses, Herrn Oberregierungsrat Dr. Benter, sage ich, die Strafgefangene Nr. 12.456, die ehemalige Ärztin Dr. Erika Werner aus«, schrieb und las dabei laut Dr. Rumholtz vor. Dann blickte er Erika Werner ermutigend an. Sie starrte an ihm vorbei aus dem Fenster hinaus in den Zuchthausgarten. Auf die wiegenden Baumkronen, auf die Sträucher, deren Blätter herbstwelk abfielen, auf den Rasen, der bräunlich wurde, auf die Astern.
»I ch sage aus«, sagte sie mit leiser, aber deutlicher Stimme. »daß meine vor Gericht gemachte Aussage falsch war. Ich habe wissentlich eine Tat auf mich genommen, die ein anderer begangen hatte. Ich tat es aus Liebe und im Glauben, daß dieses Opfer unserer Liebe wert sei! Jetzt habe ich keine Veranlassung mehr zu schweigen. Der Tod des Mädchens Helga Herwarth war ein Tod durch Verbluten, hervorgerufen durch einen chirurgisch eingeleiteten Abortus mit Perforierung des Uterusgrundes. Den tödlichen Eingriff unternahm Dozent Dr. Bornholm … ich kam erst hinzu, als das Mädchen schon im Sterben lag. Das ist meine Aussage. Sie ist wahr bei Gott –«
Ihre Stimme brach ab. Dr. Rumholtz und auch der Oberregierungsrat sprangen hinzu … aber es war zu spät. Seitlich fiel Erika Werner zu Boden. Ihre Beine knickten kraftlos ein, es war, als falle ihr zarter Körper auseinander … sie fiel mit dem Kopf zuerst auf den Steinboden und lag wie ein klägliches Häufchen zwischen schmutzigen Binden und dem Abfalleimer.
»Erika!« schrie Dr. Rumholtz auf. Er kniete neben ihr nieder und hob ihren Kopf in seinen Schoß. Aus ihrem Mund lief ein dünner Blutfaden.
»Eiskompressen!« schrie Dr. Rumholtz die zurückkommende Revierbeamtin an. »Glotzen Sie nicht … Eis! Eis!«
Mit dem Oberregierungsrat, der an den Beinen anfaßte, brachte er Erika Werner aus dem OP in ein freies Einzelzimmer. Dort fühlte er den Puls … er war weich und kaum sechzig. Die Revierbeamtin kam mit einer Schüssel Eis, einem Gummi-Eisbeutel, einer großen 10-ccm-Injektionsspritze und einigen Ampullen Traubenzuckerlösung.
»Eine schwere Gehirnerschütterung!« sagte Dr. Rumholtz, als er die stumm fragenden Augen des Direktors sah. »Sie ist mit voller Wucht auf den Kopf gefallen. Dazu ein seelischer Schock …« Er beugte sich über die Ohnmächtige und strich ihr über die wachsbleichen Wangen. »Ich habe Angst«, stotterte er, »ich habe wirklich Angst, daß wir sie nicht durchbekommen … sie wird einfach nicht mehr leben wollen …«
»Sie haben ein persönliches Interesse, nicht wahr, Herr Doktor?«
Dr. Rumholtz nickte. Langsam injizierte er den Traubenzucker in die Armvene Erikas. »Ich liebe sie, Herr Direktor.«
»Aber sie … sie ist doch eine Strafgefangene …«
»Für mich nicht. Für mich war sie immer unschuldig. Jetzt haben Sie ihr wirkliches Geständnis …«
»Gott gebe, daß es wahr ist!« Der Direktor sah auf das bleiche, schmale Gesicht und den zusammengekniffenen Mund. »Oder besser: Gott gebe … daß man es ihr glaubt und es nicht einfach in den Papierkorb wirft …«
»Dafür will ich sorgen! Man wird alles wieder aufrollen!« Dr. Rumholtz zog die Nadel aus der Vene und drückte einen kleinen Wattebausch auf den Einstich.
»Kein Gericht widerruft gern ein eigenes Urteil. Das wissen Sie.«
»Man kennt nicht meine Zähigkeit.«
»Ich wünsche Ihnen alles Glück, Doktor. Was ich tun kann, werde ich machen: Das Geständnis weitergeben. Mehr kann ich nicht tun.« Er legte die Hand auf die Schulter Rumholtz'. »Noch eins: Haben Sie Fräulein Werner schon gesagt, daß Sie sie lieben?«
»Ich habe nie mit ihr darüber gesprochen und es ihr nie gezeigt.«
»Dann tun Sie es weiterhin nicht, Doktor. Bis alles vorbei ist …
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