Dr. Ohio und der zweite Erbe
fragend das Gesicht, aber das konnte sie nicht sehen.
„Wie meinst du das?“
„Unsinn.“ Sie winkte schroff ab. „Es war nicht so gemeint. Es ist unfair. Es ist ... nur so, dass du nicht so unrecht hattest.“
Ohio verstand nicht gleich, was sie meinte. Und langsam, stockend, während er den schmalen Mond betrachtete, der langsam seine Bahn am unteren Ende des Horizonts zog und schließlich überraschend schnell verschwand, erzählte sie, dass seine Vermutung, die Sekretärin ihres Mannes betreffend, nicht so falsch gewesen sei. Ohio musste erst einmal überlegen. Ach ja, er hatte mal eine Bemerkung gemacht über Heinz und seine Sekretärin. Das war schon einige Zeit her, aber es schien etwas Ernstes zu sein. Brigitte hatte ihm ordentlich die Leviten gelesen. Aber was nutzte das schon? Heinz hatte sie betrogen. Der große, fleischige Heinz, der trotz seines dünner werdenden Haars immer noch wirkte wie ein tapsiger, junger Bär.
Als Brigitte erzählte, klang es, als seien kleinere Eskapaden bei Heinz schon öfter vorgekommen. Und trotzdem hatte sie ihre Ehe mit ihm immer für etwas ganz Besonderes gehalten, na klar. Für sie war es immer eine Partnerschaft gewesen, in der man sich rückhaltlos vertrauen konnte. Alles, was Ohio in ihr gesehen hatte, das war Heinz für sie gewesen. Und jetzt so ein profaner, billiger Verrat. Das änderte alles. Und für Brigitte war klar: Sie würde sich von ihrem Mann trennen müssen.
Als sie dann schwieg, sagte Ohio: „Ich kann das nicht glauben.“ Und er konnte es wirklich nicht glauben. Wie sollte er auch fassen, dass Heinz alles, wonach Ohio sich in den letzten 25 Jahren gesehnt hatte, einfach wegwarf. Er stand da und war von einer Kälte durchdrungen, die nicht von der Temperatur kam.
„Tja. Es ist aber so.“ Das sollte endgültig oder souverän klingen, aber es klang nur unsicher.
„Du kannst natürlich hierbleiben, wenn du möchtest. Ich schlafe auf der Couch“, sagte Ohio.
„Ich weiß“, sagte sie und lächelte. „Aber ich gehe jetzt lieber. Vielleicht komme ich mal darauf zurück.“
Er versuchte nicht, sie zu überreden. Er hatte nie versucht, sie zu irgendetwas zu überreden. Als sie ging und den leichten Hauch ihres Abschiedskusses hinterlassen hatte, war es, als würde sein Herz an einem dünnen Faden ein kleines Stück von ihr hinterhergezogen. Einen Augenblick stand er an der Tür. Komischerweise fühlte er sich fast erleichtert. Er ging zurück und schenkte sich noch ein Glas ein.
Was sollte jetzt werden? Schlagartig wurde ihm klar, dass er sein Leben die letzten Jahre nicht nur auf seiner Erinnerung an die Liebe zu Brigitte, sondern auch auf die Beziehung von ihr und Heinz aufgebaut hatte. Und jetzt gab es diese Einheit nicht mehr, deren emotionaler Nutznießer er gewesen war. Nicht mehr in der Form, von der er hätte profitieren können. Selbst wenn die beiden sich wieder versöhnen würden: Sein Ideal, seine Erinnerung und seine Selbstaufgabe an eine makellose Liebe waren dahin. Sie alle drei waren nur noch Menschen, die von den Eitelkeiten des Lebens getrieben wurden wie alle anderen auch. Und wenn Brigitte das Sanatorium verlassen würde? Er könnte unmöglich hinter ihr herziehen. Oder doch?
Ohio beschloss, ins Bett zu gehen, und lag noch lange mit unter dem Kopf gekreuzten Händen im Dunkeln zwischen den weißen Laken wach. Er war auf einmal froh, dass er noch eine Aufgabe außerhalb des Sanatoriums hatte, und entschlossen, den zweiten Erben auf jeden Fall ausfindig zu machen. Da mochten ihm Dr. Laudtner und Wieri noch so viele Steine in den Weg legen.
8
Durchs milchige Glas
dringt verwaschen die Sonne,
eine Fliege summt
In den nächsten Tagen versuchte Ohio, Schmidt in der Klinik einzugewöhnen und gleichzeitig ein paar kleine Informationen über den Verbleib des zweiten Erben aus ihm herauszubekommen. Das stellte sich als so gut wie unmöglich heraus. Zwar reagierte Schmidt auf den Namen seines Bruders. Wenn man ihm einen Satz sagte, in dem Boris vorkam, hob er den Kopf oder hörte auf, permanent mit dem Finger auf den Tisch zu klopfen. Aber eine brauchbare Information gab er nicht.
Der entscheidende Tipp kam von Erika. Auch sie hatte immer wieder versucht, Schmidt einen Satz, eine Reaktion zu entlocken, die nicht eine unmittelbare Nachahmung des Gesprochenen war. Selbst wenn das ab und zu gelang und sie das Gefühl hatte, dass er sich langsam, ganz langsam an seine Umgebung gewöhnte, so kam doch nichts Verwertbares dabei
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