Dr. Ohio und der zweite Erbe
Dr. Ohio war der Meinung, sie wären schneller als mit dem Auto. Doch es war ein heißer, staubiger Tag und der Weg durch die verlassenen Straßen zog sich länger, als er gedacht hatte. Ohio kam schnell ins Schwitzen, während Erika die Hitze und der Staub nichts auszumachen schienen. Sie trug einen dunklen Rock und eine etwas zu enge, grüne Bluse. Ihr weißer Kittel, den sie bei ihrem Aufbruch im Sanatorium vergessen hatte auszuziehen, hing über ihrer Schulter. So ging sie so frisch neben Ohio her, als sei sie eben mit ihrer Morgentoilette fertig geworden. Dr. Ohio konnte nicht umhin, sie zu bewundern.
Auf dem Revier trafen sie die Kommissarin in ihrem Büro an. Sie war wesentlich gesprächiger als Dr. Rainer.
„Murnach hat Schmidt vor ungefähr zwei Jahren bei sich aufgenommen“, sagte sie, als Dr. Ohio ihr den Grund seines Besuchs genannt hatte. Die Erbschaftsangelegenheiten interessierten die Kommissarin weniger.
„Ich bin überzeugt davon, dass eine eventuelle Erbschaft für Murnach keine Rolle gespielt hat“, sagte sie nach kurzem Nachdenken. „Man kann ihm meiner Meinung nach eigentlich keine Absichten oder Berechnung unterstellen. Wie ich die Sache sehe, hat er Schmidt aus zwei Gründen aufgenommen: Er war eine billige Arbeitskraft, wenn auch nicht besonders effektiv. Und Murnach war sehr allein. Einsam. So erschien es mir, und auch Dr. Rainer deutete so etwas an. Er hat ein- oder zweimal mit Murnach gesprochen.“
„Ich weiß“, sagte Dr. Ohio. „Er wollte mit dem Hinweis auf die Schweigepflicht aber nichts sagen.“
Die Kommissarin sah ihn überrascht an.
„Na ja, wenn das so sein sollte, dann nehmen Sie es eben als meine persönliche Einschätzung“, sagte sie dann leichthin. Sie lehnte sich hinter ihrem Schreibtisch zurück, kritzelte eine Weile mit ihrem Stift auf einem Papier und sah Dr. Ohio mit einem gewissen, verschmitzten Blick an. „Murnach hat wohl tatsächlich ein paar Informationen, die Sie interessieren könnten. In unregelmäßigen Abständen hat er Schecks aus dem Ausland bekommen. Nicht viel, sagt er, aber doch immer wieder.“
„Aus dem Ausland“, sagte Dr. Ohio tonlos. Die Kommissarin nickte.
„Wissen Sie auch, welches Land?“, fragte Erika ungerührt.
„Tja, ich glaube, es war Frankreich.“ Sie beugte sich vor und sah Dr. Ohios Assistentin zum ersten Mal an. Erika machte es nichts aus, dass sie von Frauen im Allgemeinen ignoriert wurde. Sie war es gewohnt, dass Personen ihres Geschlechts ihr oftmals wenig Sympathie entgegenbrachten. Warum sollte die Kommissarin eine Ausnahme machen? „Mehr weiß ich gerade nicht. Ich kann aber die Akte holen lassen. Da müsste ich dann aber doch vorher noch mit dem Nachlassgericht und dem zuständigen Notar telefonieren. Wegen Ihrer Vollmacht.“
Dr. Ohio winkte ab.
„Wir versuchen es erst mal bei Murnach selbst. Ich wollte sowieso noch ein paar Informationen wegen Schmidt von ihm. Aber es wäre nett, wenn wir Sie noch mal bemühen könnten, sollte Murnach uns nichts erzählen. Es ist ziemlich dringend.“
„Jederzeit.“ Die Kommissarin lächelte ihn an und gab beiden die Hand.
„Ich hätte sie telefonieren lassen“, sagte Erika, als sie draußen vor dem Revier in der Sonne standen. Dr. Ohio zog die Brauen hoch.
„Warum? Vielleicht müssen wir ja noch mal herkommen. Und zu Murnach ist es kaum ein Umweg. Aber natürlich, wenn es Ihnen zu viel wird ...“
„Nein“, wehrte Erika schnell ab. „Überhaupt nicht.“
Sie stoppte den Wagen vor dem Brillengeschäft. Von außen war, wie üblich, keine Spur von Leben zu sehen. Die Jalousie an der gläsernen Eingangstür war halb heruntergezogen und Dr. Ohio fürchtete schon, der Laden könnte geschlossen sein. Doch die Tür schwang auf und das schrille Klingeln der Glocke zersprengte die staubige Stille in Tausende von kleinen Scherben.
Es war dunkel im Laden und sie mussten ihre Augen nach dem grellen Sonnenschein draußen erst daran gewöhnen, bevor sie Einzelheiten wahrnehmen konnten. Ihre Schritte hatten dünne Staubflusen aufgewirbelt, die zur Begrüßung in den spärlichen Sonnenstrahlen tanzten, die durch den offen stehenden Spalt der Jalousie drangen. Die Luft war stickig und staubig. Es schien niemand anwesend zu sein.
„Hallo!“, rief Dr. Ohio. Keine Antwort.
„Er ist nicht da“, sagte Erika, als sie eine Weile gewartet hatten. Doch da ging die Tür auf, aus der Dr. Laudtner vor ein paar Tagen gekommen war, und Murnach erschien.
„Doch, doch!“, rief
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