Dr. Ohio und der zweite Erbe
Murnach war für die Neubelebung des calvinistischen Glaubensbekenntnisses und die Gründung der Appendisten völlig belanglos und damit auch wertlos für Wieri. Ohio seufzte und zog die Augenbrauen hoch.
Wieri betrachtete das Gespräch offensichtlich noch nicht als beendet, war aber auch nicht gewillt, von selbst etwas zu sagen.
„Und was macht die Suche nach dem Buch?“, fragte Ohio schließlich, um das Schweigen zu brechen.
„Es geht voran.“ Der Finne lächelte kurz und schmal. „Ja, ich habe Grund zur Annahme, dass sich in der Nähe von Genf ...“, er brach abrupt ab, „... etwas tut“, führte er dann lahm zu Ende.
Dr. Ohio verzog skeptisch den Mund und breitete die Hände aus. Er hatte keine Ahnung, wie wahrscheinlich Wieris Hoffnung auf den Zusatz zu Calvins Schriften war und wie gut die Chancen standen, dass er ihn finden würde. Aber so richtig konnte er nicht daran glauben.
„Wir warten nicht mehr lange“, stieß Wieri schließlich hervor. „Doktor, ich warne Sie.“ Damit verließ er ohne ein weiteres Wort die Bibliothek.
Dr. Ohio packte ein paar Unterlagen in eine Tasche, die er mitgebracht hatte, knipste die Schreibtischlampe aus und ging. Auf dem Weg nach Hause überlegte er die ganze Zeit, wen Wieri wohl mit „wir“ gemeint hatte. Die Appendisten, die calvinistische Gemeinde? Die Gläubigen in aller Welt, für die in Wieris Augen nur noch er, Dr. Ohio, die letzte hartnäckige Hürde zur wahren Erleuchtung war? Am wahrscheinlichsten war jedoch, dass er immer noch mit Dr. Laudtner unter einer Decke steckte. Ihre Ziele ließen sich wohl auch weiterhin ganz gut vereinbaren.
Am nächsten Tag fuhr Dr. Ohio zusammen mit Erika zu Dr. Rainer. Er musste unbedingt herausfinden, was Murnach wusste, und der einfachste Weg schien ihm über den Polizeipsychologen zu führen. Tatsächlich hatte er mehrere Gespräche mit Murnach geführt.
„Aber das fällt, wie ich Ihnen ja nicht zu sagen brauche, unter die Schweigepflicht“, sagte Dr. Rainer etwas gespreizt und ließ einen Bleistift, den er senkrecht aufgestellt hatte, auf seinen Block fallen.
Sie saßen in seinem Büro. Dr. Rainer war nur ab und zu für Gutachten oder akute Fälle für die Polizei tätig. Ansonsten hatte er in Tübingen seine eigene Praxis. Sie lag nicht sehr weit entfernt von der Polizeidirektion in der Eugenstraße, in einem etwas von der Straße zurückgesetzten Bürgerhaus, das bereits Anfang des letzten Jahrhunderts gebaut worden war. Die grauen Mauern schimmerten halb verborgen durch dunkle Bäume, verschlungene Büsche und Efeu. Abseits des Trubels der Tübinger Altstadt war es ruhiger und durch das offene Fenster hörte man nur von der Hegelstraße das leise Rauschen des Verkehrs. Hier lag auch wochentags eine bleierne Leere in der Straße, wie man sie sonst nur von Sonntagen kennt.
Dicke Teppiche und schwere, tabakgebeizte Holzmöbel ließen das Sprechzimmer kleiner wirken, als es tatsächlich war. Dr. Rainer saß hinter einem ausladenden Schreibtisch, der vollgestopft war mit Blättern, Zetteln, Büchern, mit aus Zeitschriften herausgerissenen Artikeln. Die Jalousien am Fenster hinter ihm waren halb zugeklappt, sodass der Raum im Halbdunkel lag. Dr. Ohio gefiel die Praxis ganz gut. Sie erschien ihm plötzlich als eine mögliche Lösung seines eigenen Dilemmas, ein Entwurf. Ein neues Leben vielleicht. Er hätte allerdings die Topfpflanze, eine Palme mit ausladenden Blättern, dringend mal wieder vom Staub befreit.
Dr. Rainer trug einen karierten Pullunder und starrte die Besucher über seine goldene Lesebrille forschend an. Wie schon auf dem Polizeirevier schien er bestimmte, nicht näher definierte Vorbehalte gegen das Sanatorium zu hegen.
„Ich wollte in erster Linie von Ihnen wissen, ob es wohl möglich ist, Murnach zu sprechen“, sagte Dr. Ohio.
„Natürlich. Er ist wieder in seinem Geschäft. Die Polizei hat ihn auf Kaution entlassen. Es besteht keine Fluchtgefahr. Um eine Gerichtsverhandlung kommt er aber sicher nicht herum. Es wird wahrscheinlich um die Unfälle und die Verletzung der Aufsichtspflicht gehen. Ich glaube, der Herr, mit dem Sie damals gekommen sind, wird ihn vertreten.“
„Na, dann“, murmelte Erika.
Erika wollte gleich weiterfahren zu Murnachs Optikergeschäft, aber Dr. Ohio bestand darauf, zuvor noch auf dem Polizeirevier vorbeizuschauen. Da es in der Nähe von Dr. Rainers Praxis lag, gingen sie zu Fuß. Von der Eugenstraße führte eine Fußgängerbrücke über die Steinlach und
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