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Dr. Ohio und der zweite Erbe

Dr. Ohio und der zweite Erbe

Titel: Dr. Ohio und der zweite Erbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Stichler
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Insel schwamm der kleine Bahnhof mit seinen zwei Gleisen inmitten der Dunkelheit. Plötzlich, als hätte er nur auf die Ankunft dieses Mannes mit dem letzten Zug gewartet, zuckte ein wilder Blitz über den ganzen Himmel und erhellte für den Bruchteil einer Sekunde die umliegenden schroffen Gipfel der Berge und den sich widerspiegelnden Genfer See, auf dessen kabbeligen Wellen die festgemachten Boote schaukelten. Der Mann rieb sich die Augen, geblendet vom hellen Licht, als ein röhrender Donner losbrach. Er richtete sich so hoch auf, wie es seine geringe Größe zuließ, und es schien, als wolle er mit mächtiger Stimme dem Grollen antworten. Doch beinahe zeitgleich mit dem Donner setzte ein heftiger Regenschauer ein, der vom Wind über die Gleise und den Bahnsteig getrieben wurde. Der Mann duckte sich unter dem Ansturm und durchsuchte eilig seinen Rucksack. Als er schließlich ein dünnes, durchsichtiges Regencape überstreifte, war er schon völlig durchnässt. Die faserdünnen, farblosen Haare hingen ihm klatschnass ins blasse Gesicht. Mit einer wegwerfenden Handbewegung strich er sie aus den Augen und machte sich auf den Weg ins Dorf.
    Eine kleine Karte in der Hand, ging der Mann suchend die Hauptstraße entlang. Von ferne sah er vom Regen und von den auf seinem Cape reflektierenden Lichtern der heftig hin- und herwippenden Straßenlaternen ganz undeutlich aus – wie eine vom Radiergummi verwischte Bleistiftzeichnung. Schließlich schien er gefunden zu haben, wonach er suchte, und eilte darauf zu – die „Auberge de Lion“, ein kleiner, einfacher Gasthof an der Straße nach Lausanne.
    Wie ein tropfnasses Rumpelstilzchen stand der Mann in der Lobby und wurde von verschiedenen Leuten, die gut gekleidet und satt aus dem angrenzenden Speiseraum kamen, neugierig angestarrt. Er ging zur Rezeption und zog auf dem dunklen Steinboden eine nasse Spur hinter sich her.
    „Monsieur Wieri?“, sagte der Hotelangestellte am Empfang. Er warf einen Blick auf die aufgeweichte Gestalt und dann auf seinen Bildschirm. „Ah ja, da haben wir Sie. Zimmer 667.“
    Värie Wieri nahm die Anmeldung und den Schlüssel entgegen und knurrte: „Gibt’s noch was zu essen?“
    Der Hotelangestellte sah auf die Uhr und dann auf den bemitleidenswerten Zustand des späten Ankömmlings.
    „Ich denke schon, wenn Sie sich beeilen. Ich werde in der Küche Bescheid sagen.“
    Wieri nickte und ging auf sein Zimmer, um sich umzuziehen.
    Wenig später saß er an einem kleinen Tisch im Speiseraum. Nur eine Handvoll Gäste waren anwesend. Sie hatten alle schon gegessen und saßen noch auf ein Glas Wein an ihren Tischen. Vor Wieri dampfte ein Teller Ragout. Während er aß, ließ er seine Augen von Tisch zu Tisch wandern und musterte die Leute, als suche er jemanden, wolle aber selbst nicht bemerkt werden. Er schenkte sich ein Glas von dem Schweizer Wein ein, den er bestellt hatte, fand ihn aber etwas schwachbrüstig. Trotzdem nahm er einen großen Schluck, dann rieb er sich die Augen und seufzte missmutig.
    Warum saß er hier in einem Kaff bei Genf, in der „Auberge de Li-on“, bei strömendem Regen? In dieser verdammten Einöde zwischen riesigen, schroffen Bergen und kalten Seen? Wieri wusste es selbst einen Augenblick lang nicht mehr. Gott, warum ...?, dachte er. Aber dann fiel es ihm wieder ein. Er hatte sich schon seit ein paar Wochen vorgenommen zu reisen. Höpfner hatte in dieser Gegend ein kleines Anwesen. Anwesen war eigentlich zu viel gesagt, es war mehr ein heruntergekommener Bauernhof, verpachtet an einen alten Bauern, der einmal im Jahr seinen eher symbolischen Pachtzins an Dr. Laudtner überwies.
    Seit einiger Zeit führte Wieri nun schon eine Korrespondenz mit einem Religionswissenschaftler in Genf. Und der hatte ihn darauf aufmerksam gemacht, dass in den alten Bauernhäusern im Umland manchmal wahre Schätze an alten Schriften zu finden seien. Lange ging Wieri dieser Satz nicht aus dem Kopf, aber er konnte ihn nicht in den richtigen Zusammenhang bringen. Bis es ihm eines Tages wie Schuppen von den Augen fiel: Schon Höpfners Großvater hatte ja angefangen, Teile seiner Sammlung in verschiedene seiner Häuser auszulagern. Was, wenn auch das Buch, von dem in Höpfners Testament die Rede war, gar nicht in dieser vermaledeiten Bibliothek im Schönbuch zu finden war? Wie in Borges Bibliothek würde er sein ganzes Leben in einem Labyrinth herumirren, ohne das zu finden, was er suchte. Sollte er sich nicht stattdessen aufmachen und die

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