Dr. Ohio und der zweite Erbe
dünnen Rinnsalen, den kajalverschmierten Tränen einer Frau gleich, auf die harten Dielen des Dachbodens zerfließen, durch die Ritzen sickern und die Strohnester der Mäuse im Gebälk schwärzen. Oder sollte es schon vor Hunderten von Jahren so passiert sein? Würde er nur noch einen alten Klumpen Papier, unleserlich und unverwertbar, vorfinden? Ah.
Wieri schreckte hoch. Er war beinahe der Letzte im Speiseraum. Zornig stürzte er den restlichen Wein hinunter und ging auf sein Zimmer. Nachts freilich wachte er noch ein paarmal schweißgebadet auf und dachte an das Buch. Aber es half nichts. Zuerst musste die Sache mit den Erben aus der Welt geschafft werden.
10
Blinkende Augen,
im schnellen Scheinwerferlicht
steht ganz still ein Reh
In Böen flog der Regen heran und prasselte mal stärker, mal schwächer gegen die Scheibe. Innen klang es, als wäre sie einem wechselnden Bombardement von kleinen Kieselsteinen ausgeliefert. Obwohl der Wohnwagen an allen Ecken zusätzlich zu den blockierten Reifen noch mit Backsteinen abgesichert war, vibrierte er unter dem Ansturm des sommerlichen Gewitters. Im Wohnwagen herrschte ein fahles Halbdunkel und eine den beengten Platzverhältnissen geschuldete Ordnung. An der Tür lag ein dünner, abgewetzter Fußabtreter aus Sisal oder einem ähnlich robusten Material, ansonsten war der Boden mit PVC ausgelegt. An einer Koch- und Essnische, einer schmalen Garderobe und einer Toilettenkabine vorbei führte ein kurzer Gang zu einem hoch gelegenen Bett. Auf dem Stuhl davor lagen hingeworfene Kleidungsstücke.
Der Wind rüttelte schon einige Zeit am Wohnwagen und schließlich erschienen unter der Bettdecke hervor die schwarzen, strubbeligen Haare und die müde blinzelnden, von der Nacht noch dunklen Augen eines jungen Mannes. Ein Ächzen, und er schob den kleinen Vorhang vor dem Fensterchen über seinem Bett zurück und linste hinaus. Schwapp, ergoss sich ein Schwall Wasser gegen die Scheibe. Graues Morgenlicht hatte sich wie ein vollgesogener Schwamm über die pudelnassen Bäume und die Lichtung gelegt, auf der sein Wohnwagen stand. Eine Backsteinmauer leuchtete in verwaschenem Rot.
„Na toll“, murmelte Boris und ließ sich zurück in die Kissen fallen. Eine Weile lag er wie ausgeknockt auf dem Rücken. Dann schluckte er leer, um einen bitteren Geschmack loszuwerden, seufzte und stand mit einem Schwung auf. Er zog sich einen dunkelgrünen Pullover über, der auf dem Stuhl lag, und setzte mit langsamen, routinierten Bewegungen eine Espressokanne auf seinen Zweiplattenherd. Solange der Kaffee kochte, wusch er sich das Gesicht und die Arme. Noch einmal warf er einen Blick nach draußen auf die klatschnassen Bäume, deren Blätter und Äste herunterhingen, als wollten auch sie sagen: „Muss das jetzt sein?“, während der Regen in unverminderter Heftigkeit auf sie niederprasselte.
Er trank Kaffee und blätterte lustlos in einem Heft, das neben ihm auf dem Tisch lag. Ab und zu sah er nach der Uhr und nach draußen. Schließlich stand er auf und mummte sich in ein Regencape ein, zog Gummistiefel an und öffnete die Tür. Es half nichts, er musste los. Boris drehte sich auf der schmalen, dreistufigen Treppe um und schloss die Tür. Dann sprang er mit einem Satz in eine hellbraune Matschpfütze unterhalb der Stufen. Der Regen kam in langen Schlieren über den Boden getanzt und hüllte ihn sofort ein, der Wind trieb ihm die Tropfen ins Gesicht und wehte ihm die Kapuze vom Kopf. Hastig zog er sie wieder über und sah sich suchend um. Sein Auto, ein klappriger, weißer Peugeot, stand nicht weit weg unter einem riesigen, triefenden Baum. Mit schweren, platschenden Schritten ging er über die Wiese und stieg ein. Im Wagen atmete er erst einmal tief durch. Er schälte sich im Sitzen aus dem Regenmantel und warf das nasse Ding nach hinten auf den Rücksitz. Dann fuhr er sich durch die Haare und ließ den Motor an, der nach ein paar orgelnden Geräuschen ansprang.
Langsam rollte er durch ein kleines Tor aus der Einfriedung, eine lange Backsteinmauer, die ein weites, parkähnliches Gelände umfasste, in dessen hinterstem Eck Boris seinen Wohnwagen aufgestellt hatte.
Der lang gesuchte Erbe Höpfners fuhr auf einer schmalen, dunklen Asphaltstraße, die vom Regen dampfte, bis zur Auffahrt auf die Nationalstraße. Die zog sich wie ein gerades Band durch den Wald und an langen Feldern vorbei, machte dann ein paar Kurven, durchschnitt ein kleines Dorf mitsamt Schloss und führte schließlich in einem
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