Dr. Ohio und der zweite Erbe
Schrift, von der er sich nichts weniger als die Erneuerung der Christenheit versprach – inzwischen war er so weit anzunehmen, dass auch die verblendeten Katholiken nicht umhinkommen würden, diese Schrift als die wahre Lehre anzuerkennen –, an der Quelle, dem Ursprung, an Calvins Wirkungsstätte suchen?
Aber er konnte ja nicht weg. Dieser verdammte Dr. Ohio und seine Suche nach den Erben von Höpfner hielten ihn zu Hause in Deutschland fest. Wer hätte schon gedacht, dass dieser Japaner so hartnäckig war? Er nicht und Dr. Laudtner, dieser Schlappschwanz, schon dreimal nicht. In so einer Situation wollte er auf keinen Fall verreisen und möglicherweise zulassen, dass Ohio die Erben ausfindig machte. Das Buch musste warten. Ein paar Wochen mehr oder weniger, darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an, hatte er sich gesagt. Jahrhunderte waren ins Land gegangen, ohne dass irgendein Gläubiger auch nur die Existenz der nachgelassenen Schriften Calvins geahnt hätte. Was waren da ein paar Tage. Trotzdem hatte er seine Ungeduld kaum mehr bezähmen können.
Und dann tauchte auf einmal dieser Schmidt als Erbe auf. Der schwachsinnige Schmidt, der sein Erbe mit Sicherheit nicht antreten konnte. Wieri fiel ein Stein vom Herzen und er hatte gedacht, jetzt sei alles geklärt. Freie Bahn, seiner Reise stand nichts mehr im Wege. So schnell wie möglich plante er seine Route und zog los. Höpfners Bauernhof lag südwestlich von Genf, außerhalb eines kleinen Kaffs an der Rhône in einem Gebiet, das auch als Schweizer Champagne bezeichnet wird. Liebliche Hügel und kleine Dörfer zogen sich am Fluss entlang und ins Hinterland, wo man die Ausläufer der mächtigen Berge und des Montblanc sehen konnte. Wieri hatte sich dort gerade in einer kleinen Pension eingemietet und sich vorgenommen, am nächsten Morgen zum Bauernhof zu wandern und sich dem Pächter als einer der Erben Höpfners vorzustellen, als Laudtner anrief.
„Wieri?“, fragte er vorsichtig.
„Was gibt’s denn, Dr. Laudtner?“, antwortete Wieri fast gut gelaunt. Er saß in der Gaststube beim Abendessen und kam sich ein bisschen vor wie Arni Magnusson, der auf seiner Suche nach alten Saga-Manuskripten die Höfe der isländischen Bauern abgeklappert hatte. Nur dass sein Projekt natürlich um ein Vielfaches wichtiger für die Menschheit werden sollte als das Sammeln eines Haufens alter nordischer Handschriften und Papierfetzen aus dem Mittelalter.
„Schlechte Nachrichten, Wieri“, sagte Dr. Laudtner. „Ohio hat die Spur wieder aufgenommen und den zweiten Erben ausfindig gemacht. Noch nicht ganz, aber er ist auf dem besten Weg.“
Wieri hielt den Atem an.
„Wie kann man denn da vom besten Weg reden, Mann!“, brüllte er plötzlich ins Handy. Die anderen Gäste sahen ihn erschrocken an. „Das ist der Supergau“, fuhr er gequetscht flüsternd fort.
„Was soll ich machen? Ich habe versucht, ihm die Reise auszureden, aber er wollte unbedingt fahren. Ich kam nicht mehr dazu, geeignete Gegenmaßnahmen einzuleiten.“
„Geeignete Gegenmaßnahmen.“ Wieri schnaubte verächtlich. Wenn Laudtner bei Schmidt nicht solchen Dusel gehabt hätte, wäre auch diese Aktion schiefgegangen. Was hätte Laudtner schon unternommen, wenn Schmidt nicht zufällig schwachsinnig gewesen wäre? Nichts, vermutlich. Er hätte in einer Ecke gesessen und der vergeudeten Chance nachgeweint. Aber nicht mit ihm. Nicht mit Värie Wieri. Er hatte die Nase voll. Jetzt musste eine endgültige Lösung her. Wenn es nicht schon zu spät war.
„Sie hätten lediglich dafür sorgen müssen, dass Ohio nicht mit diesem idiotischen Optiker reden kann, richtig? Das war alles. Das ist nicht schwer. Und dann das. Ich hab mich auf Sie verlassen. Warum habe ich mich auf Sie verlassen?“
„Er wollte nun mal partout fahren. Ich kann ihn ja nicht festbinden. Schließlich ist er ein angesehener Psychologe ...“ Dr. Laudtner klang ziemlich kleinlaut. In der Tat sah er seine Felle davonschwimmen und wusste keinen Rat. Aber, hatte er sich gesagt, sollte der kleine Calvinist doch auch mal was beitragen zur Rettung ihres Erbes, der Stiftung, ihrer Zukunft.
„Ich höre immer reisen und fahren. Wo will Ohio denn hin? Befindet sich der Erbe in Tokio, oder was?“
Dr. Laudtner kicherte.
„Das nicht. Die Spur führt in die Champagne.“
Wieri stockte der Atem. Das konnte kein Zufall sein. Gott hatte ihn hierhergeführt, das war ja ganz klar. Er hatte ihn sanft an der Hand genommen und ihn dahin geführt, wo er
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