Dr. Ohio und der zweite Erbe
Erika runzelte finster die Augenbrauen und kniff den Mund zusammen.
„Es dürfte wohl so knapp 15 Jahre her sein, seit ich meinen Onkel das letzte Mal gesehen habe“, sagte Boris zögernd. „15 Jahre, ja. Ich hab so dies und das gemacht ...“, seine Augen wanderten schnell zwischen Dr. Ohio und Erika her, „... und schließlich bin ich hier gelandet.“ Er breitete seinen Arm aus, als zeige er sein Besitztum, das nicht weniger als die ganze Champagne umfasste.
Das Essen kam. Auch Boris hatte eine Kleinigkeit bestellt. Er war im Lauf des Gesprächs deutlich entspannter geworden und berichtete von seiner Arbeit. Er war vor vier Jahren in die Champagne gekommen. Zurzeit führte er hauptsächlich deutsche Touristen durch die Weinkeller von Mercier. Aber er half auch bei der Lese und den Kellerarbeiten, spielte den Chauffeur und erledigte Kurierdienste.
„Sie können sich nicht vorstellen, wie das ist ...“, sagte er, „… wenn Sie zwischen den Reben in den vom Morgennebel dampfenden Hügeln stehen. Das Rebholz verbrennt in den kleinen Öfchen und dünne, blaue Rauchfahnen ziehen in den blassen, kalten Morgenhimmel. Ein Becher Kaffee, eine Zigarette ... irgendwo da unten fließt, halb verdeckt vom Nebel, die Marne. Na ja.“ Boris winkte ab und wurde rot. Dr. Ohio lächelte. Es war, als erinnere er sich an einen sanften Hügel am Biwa-See in seiner Heimat, obwohl er noch niemals am Biwa-See gewesen war. Eine Erinnerung, die nicht die seine war und sich deshalb vielleicht noch fester eingegraben hatte als andere. Die er hütete, weil sie mehr war als nur die Erinnerung an den Ort.
Es klang tatsächlich so, als hätte Höpfners Neffe hier eine Ruhe gefunden, die er lange gesucht hatte.
„Sie können auch beides haben“, sagte er nach einer Pause. „Es schadet ja nichts, etwas Absicherung im Rücken zu haben.“
„Ach nein.“ Boris winkte ab. „Reden wir nicht mehr davon. Es wäre nicht das Gleiche.“
Dr. Ohio hatte es geahnt und nickte.
„Na, also, so ein Quatsch“, protestierte Erika. „Sie können doch auch mit Geld das Leben genießen. Also ...“ Ihr fiel auf, dass sich das ziemlich komisch anhörte. „Ja, genau, oder ... was weiß ich“, stotterte sie.
Boris runzelte die Stirn. Dann schüttelte er energisch den Kopf.
„Vielen Dank. Das meine ich ernst. Ich weiß es sehr zu schätzen, dass Sie beide gekommen sind“, sagte er. „Aber hier fühle ich mich zum ersten Mal wohl und irgendwie zu Hause, seit ich denken kann. Ich bin viel unterwegs gewesen, und hier will ich bleiben.“
Er stand auf. Dr. Ohio und Erika begleiteten ihn bis zur Tür des Restaurants und verabschiedeten sich. Morgen wollten sie noch den Weinkeller besuchen und eine seiner Führungen mitmachen. Dann hatten sie vor, mit dem Abendzug zurückzufahren.
Boris verließ das Hotel und weder Erika noch Dr. Ohio bemerkten den schmalen, kleinen Mann mit den farblosen Haaren, der hinter ihrem Rücken von seinem Barhocker sprang und direkt nach Höpfners Neffen das Hotel verließ.
„Tja“, sagte Dr. Ohio. „Ein Mann, dem Geld nichts bedeutet. Dass es so was noch gibt.“
„Ihnen bedeutet Geld auch nichts“, erwiderte Erika, während sie an ihren Platz zurückgingen.
„Das stimmt, aber ... das ist etwas anderes. Und ich bin bestimmt 15 Jahre älter als er.“ Er sah sie aufmerksam an. Erika zuckte unwillig mit der Schulter.
„Sie haben sich gut gehalten“, sagte sie dann und grinste.
„Ja ...“ Dr. Ohio schien sie nicht gehört zu haben und nickte nachdenklich mit dem Kopf. „Tja, es scheint unmöglich zu sein, den jungen Mann zum Mitkommen zu überreden.“
Erika sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.
„Sein Bruder“, sagte sie dann.
Es war eine warme Nacht, vor dem Hotel waren noch jede Menge Leute auf der Straße. Boris ging langsam den Gehweg entlang und bog um die Ecke. Er hatte seinen Wagen auf dem Parkplatz direkt hinter dem Hotel abgestellt. Er war in Gedanken versunken und bemerkte die Menschen um ihn herum kaum. Auch nicht den kleinen, schmalen Mann, der einige Meter hinter ihm ging und mit seinen blassen Augen nervös umherschaute. Seine hellen Haare hingen in dünnen, kraftlosen Strähnen herunter auf den Kragen seines schwarzen Mantels, den er trotz des schönen Wetters trug. Eine Hand steckte krampfhaft in der Manteltasche. Auf der Straße fiel der Mann höchstens durch seine seltsame Art zu gehen auf. Er hatte einen festen, entschlossenen Schritt, der aber immer wieder stockte, sobald
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