Dr. Ohio und der zweite Erbe
Fälschungen von Gemälden und Radierungen, die galante Szenen der Romantik darstellten. Das East Western mit seiner dezenten Beleuchtung, den rechteckigen Ledersitzen und schlichten Tischen war jedoch nach Dr. Ohios Geschmack.
Er und Erika saßen bereits in der Lobby, als Boris eintraf. Sie sahen ihn durch die Tür kommen und sich suchend umblicken. Ohio stand schnell auf und winkte. Nach einer kurzen, verlegenen Begrüßung gingen sie hinüber ins Restaurant. Ohio wusste nicht, wie es Boris ging, und auch Erikas sphinxhaftes Gesicht vermochte er nicht zu durchdringen, um darin eine Gefühlsregung abzulesen. Aber ihm selbst war erheblich wohler, als sie in einer Ecke saßen und er, die Beine übergeschlagen, seine Ellbogen leicht auf den Tisch stützen konnte. Es war ruhig im Restaurant und von den wenigen besetzten Tischen war nur gedämpftes Gemurmel zu hören.
Boris kratzte sich verlegen am Ohr und schlug ein Bein über das andere, um es sofort wieder herunterzunehmen. Er beugte sich schließlich über den Tisch und sah Dr. Ohio an.
„Dr. Ohio, ich sage es Ihnen am besten gleich. Ich bin eigentlich nicht gekommen, um mit Ihnen zu essen. Wir können die Sache schnell besprechen. Ich habe am Erbe meines Onkels kein Interesse, egal, was es ist. Geld interessiert mich nicht, sein Haus und seine Firma interessieren mich auch nicht. Ich ...“ Er brach unvermittelt ab und sah auf seine Hände. Er hatte sich diese kurze Ansprache offensichtlich schon vorher zurechtgelegt, war jetzt aber aus irgendwelchen Gründen nicht mehr zufrieden damit.
Boris verzog den Mund, warf Dr. Ohio einen kurzen Blick zu und zuckte verlegen mit den Schultern. Erika hatte er kein einziges Mal angesehen, obwohl sie ihn eingehend musterte. Sein dichtes, schwer zu bändigendes schwarzes Haar erinnerte an seinen Bruder. Auch die runden, schwarzen Augen waren denen Karls ähnlich. Sie wirkten aber lebhafter. Karls schwarze Kulleraugen hatten Erika an Murmeln oder kleine, glänzende Steine erinnert. Schön, aber tot. Und Boris war um einiges kräftiger als sein Bruder. Er war nicht dick, hatte aber einen kleinen Bauchansatz und schien muskulös. Seine augenblickliche Verlegenheit passte eigentlich nicht zu ihm. Er war ein hübscher Mann, mit einem ausdrucksvollen Kinn und einem breiten, im Vergleich zu seinen feinen Zügen ein bisschen grob wirkenden Mund.
Wie um Erikas Beobachtung zu entsprechen, richtete Boris sich ein bisschen auf, sah Dr. Ohio fest an und sagte: „Ich danke Ihnen, dass Sie die Mühe auf sich genommen haben, mich zu suchen. Aber ich möchte von meinem Onkel nichts mehr wissen.“
Dr. Ohio atmete tief durch und zog die Augenbrauen hoch.
„Zuerst einmal möchte ich Sie bitten, sich diese Papiere hier anzusehen. Das verpflichtet Sie zu nichts.“ Ohio lächelte verlegen. Er kam sich vor wie ein Vertreter. „Es verpflichtet Sie auch zu nichts, wenn Sie mit uns eine Kleinigkeit essen. Ich würde Sie gerne einladen, Sie können nachher aber auch selbst bezahlen, wenn Ihnen das lieber ist. Ich bin ... ich war wohl so eine Art Freund Ihres Onkels und ich kann Ihnen versichern, auch mir war am Anfang nicht wohl bei der Sache, als ich erfuhr, dass er mich – unter anderem – ausgewählt hat, um seine Angelegenheiten zu ordnen, sollte ihm etwas zustoßen.“
Der Kellner kam und brachte ihnen ein Glas Champagner. Boris warf Ohio einen zweifelnden Blick zu, dann nahm er das Glas. Er nickte ihm zu und sah zum ersten Mal auch Erika direkt an. Dann schnupperte er fachmännisch an seinem Glas, nahm einen Schluck und prüfte ihn. Nach einiger Zeit nickte er zufrieden und stellte das Glas auf den Tisch.
„Hier habe ich ein Dokument, eine Kopie des Testaments. Nehmen Sie es nachher mit und sehen Sie es sich in Ruhe an“, fuhr Dr. Ohio fort. „Ich weiß nicht, wie lange Sie Ihren Onkel nicht mehr gesehen haben, aber Sie sind der alleinige Erbe. Das heißt tatsächlich, das Haus, das Vermögen und die Buchhandelskette gehören Ihnen. Ich will Ihnen aber auch nicht verheimlichen, dass die Verwaltung der Buchhandlungen schon lange in Händen der Rechtsanwaltskanzlei Laudtner & Söhne liegt und dass noch nicht klar ist, wie viel sie einbringen. Allerdings verstehe ich nichts davon. Ich bin Psychologe. Über die geschäftlichen Aspekte der Erbschaft müssen Sie mit Dr. Laudtner sprechen.“
Erika verzog abfällig den Mund. Boris lächelte, wahrscheinlich zum ersten Mal, seit sie ihn gefunden hatten. Kurz nur, als hätte er sie erkannt.
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