Dr. Ohio und der zweite Erbe
Boris sein Tempo änderte. Ansonsten wirkte er wie ein Schatten, trotz der hellen Haare irgendwie lichtlos. Sobald er hinter Boris in die dunkle Seitengasse zum Parkplatz abgebogen war, konnte man ihn kaum noch sehen.
Wieri würde sagen, Gott habe einen schützenden Schatten über ihn gelegt, damit er sein Werk der Gerechtigkeit in Ruhe vollenden könne. Andere würden sagen, er sei eine Ausgeburt der dunklen Mächte oder, vielleicht noch schlimmer, einfach eine armselige Gestalt, auf die niemand achtete. Wie dem auch sei, Värie Wieri hatte sich seit dem Nachmittag in der Lobby des Hotels herumgetrieben und gewartet, bis Dr. Ohio und Erika herunterkamen. Wie groß war seine Überraschung, als er sah, dass sie sich mit Boris trafen. Sie hatten den zweiten Erben also tatsächlich gefunden. In Gedanken stieß Wieri ein paar an Dr. Laudtner gerichtete Verwünschungen aus, war gleichzeitig aber froh, noch rechtzeitig gekommen zu sein. Sein Herz klopfte bis zum Hals, als er die drei ins Restaurant gehen sah, und er setzte sich an die Bar, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Als schließlich Boris aufstand, hatte Wieri schon einige Whiskys getrunken. Aber die, so sagte er sich, konnte er auch brauchen bei dem, was er vorhatte.
Boris stieg in aller Ruhe in seinen klapprigen Wagen, der wie üblich nicht gleich ansprang. Er drehte den Zündschlüssel, das Auto gab ein orgelndes Geräusch von sich. Boris drehte den Schlüssel zurück, wartete kurz, dann versuchte er es wieder: „U-iu-iu-iii“, stotterte der Motor. Wieri stand am Eingang des Parkplatzes. Mist, dachte er und überlegte fieberhaft, was er tun sollte. Er hatte in seiner Aufregung gar nicht an das Naheliegendste gedacht: dass Boris in sein Auto steigen und wegfahren könnte. Nervös sah er sich um. Auch in der Seitengasse waren einige Passanten unterwegs und es würde nicht unbemerkt bleiben, wenn er auf Boris’ Wagen zustürmen würde und ... Andererseits, was sollte er tun? Da erspähte er an der anderen Ecke des Hotels einen Taxistand. Ein Taxi stand dort, der Fahrer lehnte an seinem Wagen und las Zeitung.
Kurz entschlossen rannte Wieri los und winkte dem Taxifahrer schon von weitem.
„Hallo, Taxi!“, rief er. Der Mann hob nicht einmal den Blick.
„Taxi, Taxi!“, schrie Wieri und wedelte mit den Armen. Jetzt faltete der Fahrer langsam seine Zeitung zusammen und sah hinüber zu dem kleinen Mann, der auf ihn zustürmte. Verwundert sah er ihm zu, wie er auf den Rücksitz seines Wagens sprang und hektisch mit einem Zehn-Euro-Schein fuchtelte.
„Der ist für Sie!“, rief Wieri in schlechtem Französisch. „C’est pour vous, folgen Sie dem Wagen.“ Er streckte den Arm aus und deutete auf die Seitengasse, aber dort war weit und breit kein Auto zu sehen. Sollte Boris bereits weg sein? Das war eigentlich unmöglich. Der Fahrer seufzte, schüttelte den Kopf, als er um sein Auto herumging, und ließ den Motor an.
„Wohin?“, fragte er.
„Folgen Sie dem Wagen!“, rief Wieri wieder, ohne dass Boris’ Auto zu sehen gewesen wäre.
„Welchem Wagen?“, fragte der Fahrer gelangweilt. Endlich bog Boris in seinem weißen Auto um die Ecke.
„Na, dem!“, schrie Wieri und wedelte mit seinem Geldschein. Der Fahrer gab Gas und fuhr hinter Boris her aus der Stadt.
„Was hält ihn wohl hier?“, fragte Erika, als sie und Dr. Ohio wieder an ihrem Tisch saßen.
„Die interessantere Frage wäre wohl: Was hat ihn fortgetrieben?“ Ohio schenkte noch einmal ihre Gläser voll. „Es klingt, als wäre Höpfner mit seiner näheren Verwandtschaft nicht gerade nett umgegangen.“
„Er war Ihr Freund. Wissen Sie es nicht?“
Dr. Ohio schüttelte den Kopf.
„Ich habe Ihnen schon gesagt, dass ich wenig von Höpfner weiß. Aber er war der Meinung, dass er einiges gutzumachen hätte.“
„Wie auch immer.“ Erika zuckte mit den Schultern. „Ich verstehe nicht, warum er das Erbe nicht antritt. Er kann doch dann immer noch hierher zurückkommen, wenn er will.“
„Es würde anders sein“, sagte Dr. Ohio. „Und das weiß er offensichtlich. Er hat hier etwas gefunden, was ihm wichtiger ist als das Erbe.“
„Die Getränke hier sind gut“, erwiderte Erika und nahm einen Schluck aus ihrem Glas. Dr. Ohio lachte.
Das weiße Licht der Scheinwerfer bohrte sich durch die Dunkelheit der Wälder, immer entlang des schmalen Bandes der holprigen, fleckigen Landstraße. Weiter vorne in der Schwärze sah man undeutlich die Konturen der hohen Bäume, deren mächtige
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