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Dr. Ohio und der zweite Erbe

Dr. Ohio und der zweite Erbe

Titel: Dr. Ohio und der zweite Erbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Stichler
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mietete er sich ein Zimmer. Nachdem er ein heißes Bad genommen hatte, legte er sich zwischen die weißen Laken und sank in wirren Bildern von blutenden Leibern, beschmutzten Büchern, dem Blau der Polizeilichter in den Schlaf. Und zwischen allem leuchteten Helmis blonde Zöpfe.

12
    Im sumpfgrünen Teich
blinkt der Rücken des Goldfischs
unter den Weiden
    Dr. Ohio und Erika saßen im Krankenhaus von Épernay und warteten auf einem langen, schmalen Korridor, in den kein Sonnenstrahl des schönen Sommertags von draußen drang, vor einer weißen Tür. Der Gang wurde erhellt von grellem, weißem Licht, das sie an die Neonröhren im Keller von Mercier erinnerte. Nur das Flackern fehlte. Der Gang war leer, nur ab und zu bog jemand in weißem Kittel geräuschlos um die Ecke und verschwand gleich wieder hinter irgendeiner Tür. Bei jedem leisen Schlagen sah Dr. Ohio auf und senkte dann seinen Blick wieder auf den gelben, ausgetretenen Linoleumboden. Zum ersten Mal, seit er mit Erika unterwegs war, sehnte er sich nach seiner kleinen Wohnung, seinem Sessel, dem Ausblick aus dem Fenster auf die dunklen Wälder und die Wiesen und nach einem Glas Whisky. Manchmal trafen sich seine und Erikas Augen, dann lächelte sie, sagte aber nichts.
    Die Sanitäter hatten ausnahmslos alle Personen, die an Boris’ Führung teilgenommen hatten, ins Krankenhaus gebracht. Ein bisschen übertrieben, fand Erika. Nachdem alle ihre Personalien, die Anschrift und ihren derzeitigen Aufenthaltsort angegeben hatten, wurden sie in Krankenwagen weggebracht. Ein paar kleinere Verletzungen gab es tatsächlich. Die meisten rührten daher, dass die Leute vor Schreck in Deckung gegangen oder von dem langsam fahrenden Zug gesprungen waren. Nichts Bedeutendes. Bis auf einen.
    Die Tür ging auf und Boris kam heraus. Um sein Handgelenk war ein Verband gewickelt. Er war etwas weiß im Gesicht und seine dunklen Augen blickten ernst. Er lächelte Erika und Dr. Ohio zu.
    Die Schwester winkte Erika zu sich. Diese hatte sich geweigert, vor Boris zur Untersuchung zu gehen, und sich durchgesetzt. Sie war die Letzte, die hineinmusste. Alle anderen hatten das Krankenhaus längst verlassen.
    „Und? Wie geht’s Ihnen?“, fragte Dr. Ohio besorgt.
    „Alles okay.“ Boris winkte ab. „Es ist nur ein tiefer Kratzer. Ich hab mich wohl irgendwo aufgerissen, als ich vom Zug gesprungen bin.
    „Aber es stimmt“, sagte er nach einer Pause und als ob er ein vorher unterbrochenes Gespräch weiterführen wollte. „Er hat es wohl auf mich abgesehen gehabt. Ich habe ihn nur undeutlich gesehen, im Schatten des Seitengangs, aber die Augen ...“ Boris schüttelte den Kopf. „Es ist kaum zu glauben.“ Boris sah Dr. Ohio staunend an, wie ein Kind, dem man ein Märchen erzählt.
    „Ich glaube es selbst kaum“, sagte Ohio kopfschüttelnd. „Aber es ist so.“ Wieder herrschte Schweigen. Er sah zu Boden scharrte mit dem Fuß.
    „Gibt es was Neues?“, fragte Boris schließlich.
    „Er lebt ... noch“, sagte Ohio. „Aber sein Zustand ist kritisch.“ Er schüttelte den Kopf. „Mein Gott, wer konnte das ahnen? Das ist doch ...“
    Sein Blick glitt ab. Er sah den Mann vor sich, mit dem Gesicht nach unten hatte er neben den Gleisen gelegen. Ein paar Leute schrien und duckten sich in die kleinen Wägen. Der Mann, ein älterer Engländer oder Amerikaner mit einem sauber gestutzten, weißen Kinnbart in einem hellbeigen Seniorenblouson, war mit einer leichten Drehung aus dem Zug geschleudert worden. Dr. Ohio und Erika saßen nur einen Wagen weiter hinten und konnten beobachten, wie er – Ohio war er bereits aufgefallen, weil er dauernd aufgestanden war, um Fotos zu schießen – schlaff wurde, die Spannung verlor wie eine gelöste Saite und von den Schüssen getragen nach links fiel. Ein paar Meter vor ihm im Dreck reflektierte seine silberglänzende Digitalkamera das Licht der Neonröhren.
    Das Bähnchen war wenige Meter weiter hinten zum Stehen gekommen, Boris kam mit seinem blutenden Arm angerannt. Dr. Ohio stieg aus und rief automatisch: „Ich bin Arzt. Bleiben Sie zurück, bitte.“ Ja, er war Arzt. Aber was nutzte das schon. Er stand über dem Mann, durch dessen graues Jackett kreisrunde Löcher geschossen waren, aus denen ein wenig Blut sickerte. Was sollte er schon tun, außer dafür sorgen, dass der Mann so liegen blieb und möglichst schnell Hilfe kam?
    „Tja, wenn er nicht zufällig aufgestanden wäre ...“, sagte Boris jetzt im Krankenhaus zu Dr. Ohio. Der nickte

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