Dr. Ohio und der zweite Erbe
Knochen, aber er war unverletzt und unentdeckt. Auf dem Gang befand sich kein Mensch und Wieri folgte den Gleisen, die ja irgendwann zurückführen mussten zum Aufzug und an die Oberfläche.
Wieri war angeschlagen, aber nicht ausgeknockt. Die letzten 24 Stunden hatten ihm viel abverlangt und so fest sein Geist auch war, spürte er doch das Nachlassen seiner physischen Kräfte. Endlich konnte er den Bibelspruch „Denn der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach“ auch auf etwas anderes beziehen als auf Helmi, die in der siebten Klasse vor ihm gesessen hatte. Er sah sie vor sich, Helmi mit ihren dicken, blonden Zöpfen und den klaren Augen. Im Sommer trug sie leuchtende Kleider oder T-Shirts mit weiten Ausschnitten, und aus ihrem braun gebrannten Gesicht strahlten makellos weiße Zähne.
Sie war ein sehr höfliches und freundliches Mädchen und alle Jungen in seiner Klasse beneideten ihn, denn sie wohnte in derselben Straße wie er und sie gingen oft zusammen zur Schule. Värie war auch damals schon blass und schmächtig gewesen, und wenn sie nebeneinander hergingen, kam es vor, dass man ihn aufgrund des strahlenden Lächelns und der strotzenden Körperlichkeit Helmis gar nicht wahrnahm. Hinzu kam, dass er zu dieser Zeit – nicht schlimm, aber eben permanent – von Pickeln geplagt wurde.
Helmi war höflich und freundlich – bis sie den Eingang des Schulgebäudes erreicht hatten. Sobald sie ihre Freundinnen erblickte, existierte der kleine Värie nicht mehr für sie. Und seien wir ehrlich: Sie behandelte ihn nicht unfair. Sie behandelte ihn so, wie ein 14-jähriges Mädchen einen hässlichen Jungen behandelt, der sie anhimmelt. Wie Luft. Aber Värie wurde von Dämonen geplagt, jede Nacht. Er sah Helmi vor sich in ihrer ganzen Pracht, ihren lachenden Mund, ihre braune Haut ... Und er konnte den Versuchungen nicht immer widerstehen.
Aber jetzt hatte er seinen Geist gestählt und der zerrte und schleppte seinen schwachen Körper mit ungebrochenem Willen nach vorne. Wieri erreichte den Aufzug, mit dem er, wie die anderen, an Eugène Mercier und seiner famosen Gondel vorbeigeschwebt war. Kein Mensch war zu sehen. Gegenüber stand eine Tür einen Spaltbreit offen, die nur fürs Personal bestimmt war. Mit leisen Schritten und vor Anstrengung brennenden Augen ging er im Dunkeln das Treppenhaus nach oben und öffnete die Tür zur Empfangshalle. Sie befand sich versteckt direkt neben den Toiletten, sodass er schnell darin verschwinden konnte, ohne dass ihn jemand bemerkte. Dort wusch er sich die Hände und stopfte seinen verdreckten Mantel in einen Mülleimer. Um ihn notdürftig zu verbergen, warf er jede Menge Papierhandtücher darüber.
In der Empfangshalle herrschte ein wildes Durcheinander. Verschiedene Gruppen standen ratlos herum, die Fremdenführer besprachen sich mit dem Personal hinter dem Ticketschalter und an den Eingängen waren Polizisten postiert. Wieri stellte sich unauffällig zu einer Gruppe, die englisch zu reden schien. Langsam begab er sich immer weiter hinein, bis er von englisch sprechenden Touristen umgeben war. Es schien, als habe die Polizei eine Art Schleuse errichtet, um von jedem Besucher die Personalien aufzunehmen und ihn zu befragen. Von Boris, Dr. Ohio und Erika war keine Spur zu entdecken, was Wieri als gutes Zeichen deutete. Aber er musste hier raus, ohne seine Identität preiszugeben. Also ging er unauffällig wieder zurück zu der Tür, aus der er gekommen war, und stieg die Treppen weiter nach oben.
Er landete auf einem Flachdach, das nach vorne den Blick auf den Parkplatz erlaubte, der ungefähr zehn Meter unter ihm lag. Dort standen mehrere Kranken- und Polizeiwagen mit rotierendem Blaulicht. Die Sanitäter lehnten an ihren Autos, unterhielten sich und rauchten Zigaretten. Mögliche Opfer waren offensichtlich schon abtransportiert.
Wieri drehte sich um und traute seinen Augen nicht. Das ganze Gebäude war in einen Hang hineingebaut, sodass die Höhe an der dem Parkplatz gegenüberliegenden Ecke kaum zwei Meter betrug. Ein Klacks für ihn. Hastig eilte er nach hinten zum Rand des Dachs, sprang hinunter, wischte sich den Staub ab, den seine Hose beim Hinfallen eingefangen hatte, und ging zur Straße. Dann schlenderte er betont lässig an der Einfahrt zu Merciers Weinkeller vorbei und die Avenue de Champagne hinunter. Wieri war so müde, dass er sich über die ungeheuerliche Leichtigkeit seiner Flucht kaum freuen konnte. Er musste schlafen, unbedingt.
Im nächsten Hotel
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