Dr. Ohio und der zweite Erbe
den Wald schlängelte. Nach einiger Zeit kamen sie wieder he- raus und sahen Épernay und den Fluss in weiter Ferne schräg unter sich liegen. Weiter vorn lagen die Weinberge und ein paar kleine Dörfer. In einem davon bog Boris plötzlich von der Hauptstraße ab, gab Gas und fuhr den Hang hinunter. Unten bremste er scharf, bog rechts ab und raste eine noch kleinere Straße wieder hinauf, bis sie an ein Schild gelangten, das so schnell vorbeiflog, dass Dr. Ohio nur „Dégustation“ lesen konnte. Dort bogen sie in eine kleine Einfahrt ein, die sich weiter hinten zu einem großen Hof öffnete. Boris beschleunigte und Dr. Ohio sah nach hinten, ob ihnen jemand folgte. Es war kein anderer Wagen zu sehen.
Währenddessen fuhr Boris mit einem Affenzahn an einer Scheune vorbei, bog dahinter scharf links und sofort danach rechts ab und sie befanden sich wieder auf einer Dorfstraße, die steil nach oben führte. Wieder drückte Boris das Gaspedal durch und sie rasten aus dem Dorf hinaus und dem Wald entgegen. Dort tuckerten sie gemächlich eine schnurgerade kleine Straße entlang und kamen schließlich wieder auf die Route Nationale. Das Ganze hatte vielleicht zwei Minuten gedauert. Alles, was Dr. Ohio beim Zurückblicken bemerkt hatte, waren ein paar flatternde Hühner.
„Nicht schlecht“, murmelte er. Boris schmunzelte.
Als sie beim Wohnwagen ankamen, war es früher Abend. Boris parkte den Wagen unter dem großen Baum und sie stiegen aus.
„Das ist aber ein schönes Plätzchen“, sagte Erika. Die Wiese war auf der einen Seite von der hohen Ziegelmauer umgeben, auf der anderen dehnte sie sich weit bis zum Waldrand. Nahe dem großen, alten Baum stand noch eine Gruppe Bäume und weiter unten, nur wenige hundert Meter entfernt, war ein kleiner Weiher zu sehen.
„Und wo wohnen Sie?“, fragte sie, nachdem sie sich umgesehen hatte.
„Na, hier“, sagte Boris verlegen und deutete auf den alten Wohnwagen. „Tja, die Eigentümer des Grundstücks haben mir diesen Platz überlassen, als ich hier angekommen bin. Das Grundstück gehört Mercier.“
Dr. Ohio atmete tief die frische Luft ein und ging langsam hinüber zu dem Wagen, der auf seinen Stützen und halb an die Ziegelmauer gelehnt ein bisschen altersschwach aussah. Erika war stehen geblieben und sah Boris zweifelnd an.
„In dem Ding?“, fragte sie.
„Na, hör mal“, sagte Boris trotzig und vergaß in seiner Empörung das Siezen. „Dieses ‚Ding’ genügt mir voll und ganz. Es ist wasserdicht, hat eine Heizung, einen Herd und ein Bett. Wenn’s dir nicht passt ...“
„Schon gut, schon gut“, meinte Erika, „ich hab es nicht so gemeint. Ich war nur etwas überrascht, das ist alles. Entschuldige.“
„Ich weiß schon, dass es keine vollwertige Wohnung ist. Aber ich bin gern hier draußen.“
„Das glaube ich!“, rief Dr. Ohio, der vom Wohnwagen aus weiter in die Wiese hineingegangen war. Von dort hatte man einen wunderschönen Ausblick ins Tal. Links spickten zwei Türmchen des nahen Herrenhauses durch die Baumkronen und ganz weit unten funkelte ein kleines Stück vom Fluss. Im Weiher schnappten die Fische nach den in der Abendsonne schwirrenden Insekten.
Boris baute in aller Eile einen Gartentisch und Stühle auf. Dann begab er sich in seine Küche – so nannte er seinen Herd – und brutzelte Steaks mit Bratkartoffeln. Beim Essen besprachen sie ihr weiteres Vorgehen.
„Eins ist mal sicher“, sagte Dr. Ohio und kaute genüsslich auf einem Stück Fleisch. „So wie bisher kann es nicht mehr weitergehen. Und ich fürchte, zumindest bis diese Geschichte ausgestanden ist, können Sie hier auch nicht mehr bleiben.“
Boris schenkte ihm Rotwein ein.
„Sind Sie ganz sicher, dass er es auf mich abgesehen hat?“
„Sie sind doch selbst sicher“, sagte Dr. Ohio. „Haben Sie nicht gesagt, Sie hätten gesehen, wie er auf Sie gezielt hat?“ Er nahm einen Schluck. „Mmh, sehr gut.“
„Der ist aber nicht aus dieser Gegend.“ Boris lächelte bedauernd, als wäre er verpflichtet, seinen Gästen nur Spezialitäten aus der Region anzubieten.
„Wenn der Mann nicht zufällig aufgestanden wäre, um ein Foto zu schießen ... zu machen“, sagte Erika, „dann lägen Sie jetzt im Krankenhaus. Kommen Sie, Doktor. Wir sind doch derselben Meinung“, wandte sie sich plötzlich an Ohio. „Wir wissen doch, wer für den Anschlag verantwortlich ist, oder?“
Dr. Ohio hob die Hand.
„Sagen wir lieber, wir beide haben einen begründeten Verdacht“, sagte er
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