Dr. Ohio und der zweite Erbe
an ihm, den Arm um seine Schulter gelegt. „So, wie es aussieht, haben wir noch ein ganzes Stück vor uns. Wir können nur hoffen, dass uns jemand aufgabelt und ins nächste Dorf mitnimmt.“
Boris nickte. Erika ging schweigend weiter und sah Boris von der Seite an. Was meinte er mit „Früher wäre mir das nicht passiert“?
Der Regen ließ nach und hörte schließlich ganz auf. Am späten Nachmittag kam die Sonne durch und sie ließen sich auf einer kleinen Lichtung nieder, die nahe einem breiten Weg gelegen war, um sich ein bisschen aufzuwärmen und ihre Kleider zu trocknen. Der Wald erschien ihnen riesig, er nahm kein Ende. Es war natürlich auch möglich, dass sie im Kreis gegangen waren, aber daran mochte Dr. Ohio nicht denken. Er hatte wirklich keine Lust, die Nacht auf dem feuchten Waldboden zu verbringen. Lang ausgestreckt lag er im Gras und dachte an die gelben Augen von Waldeulen. An schnaufende Rüssel, die nachts geschäftig den Boden aufwühlten. Der einzige Lichtblick war, dass sie Wieri nicht mehr begegnet waren. Ansonsten sah ihre Lage ziemlich trostlos aus.
Seine Gedanken schweiften ab. Er dachte an Erika, als ob sie sehr weit entfernt wäre, obwohl sie kaum zwei Meter neben ihm im Gras lag. Blinzelnd öffnete er ein Auge, um sich davon zu überzeugen. Da lag sie, auf dem Rücken, erschöpft, die Augen geschlossen, mit ausgebreiteten Armen, ganz der bleichen Sonne ergeben. Wie viel war nötig gewesen, um sie ihm wieder so fremd zu machen wie vor ihrer Reise? Nicht viel, befand er. Eigentlich gar nichts. Nur der Lauf der Dinge ...
Dr. Ohio öffnete auch das zweite Auge. Hörte er da nicht ein leises Brummen? Er stützte sich auf die Ellbogen und sah über das hohe Gras hinweg. Kein Zweifel, da bewegte sich etwas. Ein Wagen fuhr langsam den Waldweg entlang, ein grüner Geländewagen. Ohio sprang auf, so schnell es seine steifen Knochen zuließen, und rannte mit beiden Armen winkend über die Wiese. Der Wagen fuhr noch ein paar Meter weiter und hielt dann an. Dr. Ohio lehnte sich an die Dachreling und redete durchs Seitenfenster mit dem Mann am Steuer. Er deutete auf die Lichtung und winkte kurz darauf den anderen. Die beiden erhoben sich und gingen langsam und mühsam wie Kriegsinvaliden über die Wiese. Boris stützte sich auf Erika.
„Es tut mir leid“, sagte Boris. Erika sah ihn fragend an. „Was ich vorhin gesagt habe. Im Zug. Ich wollte dich nicht erschrecken.“
„Du hast mich nicht erschreckt“, sagte Erika leise.
„Warum hast du mir nicht gesagt, dass du ... und er ...?“, fragte Boris stockend und wies mit dem Kinn auf Dr. Ohio.
Erika schwieg. Aber sie kamen dem Wagen immer näher, und wenn sie noch etwas sagen wollte, dann sollte sie es jetzt tun.
„Es gibt keinen Grund, dir irgendetwas über mich zu erzählen“, sagte sie hastig. „Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig, oder? Ich weiß ja selbst gar nicht ...“ Sie brach ab und sah Boris von der Seite an.
„Ich weiß. Ich dachte nur ...“
„Und du?“, fragte sie ärgerlich. „Was hast du vorhin damit gemeint, als du sagtest, früher wäre dir das mit Wieri nicht passiert?“
Boris hob die Augen und sah sie an wie ein Welpe.
„Ich war ja nicht immer Fremdenführer im Champagner-Keller“, sagte er etwas hochtrabend und lächelte treuherzig.
Der Mann neben Dr. Ohio war ein wahrer Hüne. Eigentlich war er nicht viel größer als Ohio, aber ungefähr dreimal so breit. Herr Adler kam aus Büchelberg, einer nahe gelegenen Ortschaft, und war auf dem Rückweg zu seinem Bauernhof.
„Adler. Wie Horst“, stellte er sich vor, als Erika mit Boris den Wagen erreichte, und ein lautes Lachen dröhnte aus seinem mächtigen Brustkasten. Dr. Ohio hob die Hände und verzog ratlos den Mund. Erika und Boris lachten höflich. Auf jeden Fall zögerte er nicht lange und bugsierte alle mit ein paar Bewegungen seiner schaufelartigen Hände in den Wagen.
Unterwegs fragte Dr. Ohio nach einer Pension, aber Adler lachte nur.
„In Büchelberg? Da können Sie lange suchen. Wir sind gleich da, dann werden Sie schon sehen.“
Büchelberg war winzig und lag einsam inmitten einer großen Lichtung, rings umgeben von Wald. Es war, als hätten sie bei ihrem Weg durch den Wald eine Art Tor oder Schleuse passiert. Ein bisschen wie in einem tschechischen Märchen, in dem man aus der realen Welt in eine Fantasiewelt eintritt und plötzlich im Märchenwald steht und vom Wolf begrüßt wird, während die sieben Geißlein kichernd
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