Dr. Ohio und der zweite Erbe
vorbeiflitzen.
Bauer Adler war schweigsam geworden und steuerte an ein paar Wiesen und Feldern vorbei auf das kleine Dorf zu. Ab und zu musterte er Dr. Ohio nachdenklich von der Seite. Dann gab er sich einen Ruck und bot ihnen an, sie für eine Nacht auf seinem Bauernhof einzuquartieren. Platz sei genug da, sagte er, und seine Frau würde sicher drei Mäuler mehr stopfen können.
Ohio überlegte nicht lange. Es war auf jeden Fall besser, bei Privatleuten unterzukommen. In einer Pension hätte Wieri viel mehr Chancen herauszubekommen, wo sie sich aufhielten. Und Adler machte einen vertrauenswürdigen Eindruck, was man von ihrer Reisegruppe nicht gerade behaupten konnte. Also bedankte er sich herzlich und nahm das Angebot an.
Auch der Bauernhof und die gute Stube der Familie Adler, die sie bald darauf betraten, machten den Eindruck, als seien sie in direkter Nachbarschaft zum bösen Zauberer Rumburak im Märchenwald angesiedelt. Und Frau Adler passte mit ihren Jeans, die ganze Zeltbahnen Stoff verschlungen haben mussten, und ihrer runden Gemütlichkeit ebenfalls ins Bild. Sie wies jedem der unerwarteten Gäste eine winzige Stube unterm Dach des riesigen Bauernhauses zu. Dort konnten sie sich frisch machen und ausruhen.
Während Boris schlief, ging Dr. Ohio nach unten. Er musste dringend telefonieren, um sicherzugehen, dass die Sache mit Boris’ Erbe so schnell wie möglich geregelt werden konnte. Damit wären alle Gründe für Wieris wahnwitzige Anschläge ausgeräumt. Und um alles vorzubereiten, brauchte er Dr. Laudtner, auch wenn er ihm nicht über den Weg traute. Der Rechtsanwalt sollte einen Termin mit dem Notar verabreden, damit Boris so schnell wie möglich die Erbschaft antreten konnte und somit die Stiftungsklausel in Höpfners Testament erlosch.
Es klingelte bereits, als Ohio die Verbindung zwischen Laudtner und Wieri in den Sinn kam. Möglicherweise hatten sie das alles ja zusammen geplant? Sollte er lieber wieder auflegen? Eine Allianz zwischen den beiden lag bis zu einem gewissen Punkt auf der Hand. Aber der Wahnsinn von Wieris Mordanschlägen ging zu weit. Ohio schätzte Laudtner als viel zu feige und vorsichtig ein, als dass er die zunehmend irren Wege des Finnen unterstützen würde. Wieri war für niemanden mehr auch nur annähernd kalkulierbar. Und beide hatten völlig entgegengesetzte Interessen ... Auf der anderen Seite der Leitung sprang der Anrufbeantworter an. Dr. Ohio atmete auf. Laudtner war nicht da. Er sprach ihm eine kurze Nachricht auf Band und legte wieder auf.
Erika lag im Halbdunkel auf dem schmalen Bett in ihrer Kammer. Sie hatte ihre Bluse ausgewaschen, die jetzt zum Trocknen am offenen Fenster auf einem Kleiderbügel im lauen Wind des schwülen Spätnachmittags baumelte. Blinzelnd drehte sie den Kopf zum Fenster, ein kleines Viereck, dessen Licht die weißgetünchten Wände ihres Zimmers blaugrau färbte. Sie sah ihrer zappelnden Bluse zu, dann fiel ihr Blick auf ein kleines Kreuz, das an die Wand über dem Bett genagelt war. Es klopfte.
Sie ging auf bloßen Füßen zur Tür, öffnete einen Spalt und lehnte sich von innen leicht dagegen.
„Hi“, flüsterte Boris so leise, als würde ein lautes Geräusch Gewebe zerreißen.
„Hi“, flüsterte Erika zurück, und im dunklen Flur schimmerte das Weiß ihrer Augen wie fahles Irrlicht. Boris streifte mit seinem Blick ihre Schulter, über die der schmale Riemen ihres BHs verlief.
„Was gibt’s denn? Du solltest im Bett liegen und dich ausruhen.“
Boris nickte wie ein braver Junge, machte aber keine Anstalten, in sein Zimmer zurückzugehen.
„Es gibt bald was zu essen“, sagte er schließlich. Erika nickte. Boris lehnte sich an die Wand, sodass nur der Türspalt ihn von Erika trennte. Sie schwiegen.
„Ich meine ...“, sagte Boris schließlich zusammenhanglos, „ist alles okay?“
Erika lachte leise und nickte.
„Bei mir schon. Und bei dir?“
„Es geht mir schon besser.“
„Ich merke es. Schön.“
Boris senkte den Kopf und fuhr mit seiner nackten Fußsohle über den harten, fest geknüpften Sisalteppich im Gang.
„Ich wollte nur sagen ...“, fing er wieder an.
„... dass das Essen fertig ist“, sagte Erika und schmunzelte.
„Das auch.“ Er lachte nervös. „Nein, dass ich mich vorhin zwar entschuldigt habe, aber ... eigentlich hab ich es nicht so gemeint. Das wollte ich dir sagen. Es tut mir nicht leid.“
„Na, so was“, sagte Erika spöttisch und zog die Mundwinkel nach unten.
„Ja ...“
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