Dr. Ohio und der zweite Erbe
ohrenbetäubendes Kreischen setzte ein, als die Bremsklötze auf den metallenen Schienen schleiften und Funken sprühten. Dann stand der Zug und für den Bruchteil einer Sekunde war es ganz still. Dr. Ohio meinte sogar, das Feuer hinter der Toilettentür hören zu können. Dann hörte man das Rumpeln von Gepäckstücken, erschrockene Rufe und Schreie. Türen wurden aufgerissen und im Nu waren die Gänge verstopft. Wo kamen all die Leute auf einmal her? Bis vor wenigen Minuten schien der Zug wie ausgestorben.
Nachdem Wieri die Lunte gezündet hatte, machte er sich schleunigst auf den Weg zum hinteren Ende des Zugs. Es war ja leider unmöglich für ihn, die Brandfalle zu überwachen. Er konnte nur hoffen, dass in den nächsten 15 Minuten niemand auf die Toilette musste. Wieri suchte sich ein leeres Abteil, in dem er die Schaffneruniform loswerden konnte. Er hatte sich gerade umgezogen, als der Zug mit ohrenbetäubendem Kreischen stoppte. Damit hatte er nicht gerechnet. Er begann sofort nachzurechnen. Boris dürfte seit ungefähr zehn Minuten in der Toilette eingeschlossen sein. Wieri hatte zu wenig Erfahrung, um zu beurteilen, ob das reichte, um den Tod durch Verbrennen oder Ersticken herbeizuführen. Er brauchte Klarheit.
Auf dem Gang herrschte Chaos. Schon an der Verbindung zum nächsten Waggon blockierten eine Menge Leute den Weg. Alle wollten wissen, was passiert war, und aus den wenigen Informationen, die von weiter vorn zu ihnen drangen, entstanden die wildesten Gerüchte. Die Einfallslosesten machten aus dem Nothalt einen Terroranschlag. Logisch, dachte Wieri. Das Unerklärliche heißt heutzutage nicht mehr Wunder, sondern Terroranschlag. Wieri kämpfte sich mühsam und mit einer gehörigen Portion Grobheit weiter. Ein Trio an der Tür zum nächsten Waggon mutmaßte, die Fritteuse des Schnellimbisses in der Mitte des Zugs sei in die Luft geflogen.
Je weiter Wieri vordrang, desto näher kam man der Wahrheit. Noch einen Waggon weiter brachte jemand eine verstopfte Toilette ins Gespräch, was sogar Wieri stutzen ließ. Er sah den gepflegten und peinlich akkurat gekleideten jüngeren Mann, der diesen Verdacht geäußert hatte, ungläubig an.
„Glauben Sie im Ernst, dass jemand wegen einer verstopften Toilette die Notbremse zieht?“, fragte er und schüttelte den Kopf.
Der Mann zuckte mit unwissender Arroganz mit den Schultern.
„Wenn auch noch das Klopapier fehlt ...?“, rief jemand von hinten. Die Umstehenden lachten.
Was für eine Welt. Wieri kämpfte sich weiter.
14
Von weither ein Ton,
Zeit ist ein kleiner Vogel,
der fliegt in der Nacht
„Wir brauchen einen Schaffner!“, schrie Dr. Ohio. Er hatte noch einmal vergeblich versucht, die Toilettentür einzutreten. Durch die Ritzen drang der Qualm immer stärker hervor. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, bis etwas passierte. Er befürchtete, dass der Erbe Höpfners in einer Zugtoilette erstickte oder verbrannte.
Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis aus dem vorderen Teil des Zugs eine Schaffnerin kam, eine junge, kräftige Frau, die sich energisch einen Weg durch die aufgeregte und neugierige Menge bahnte.
„Hierher!“, rief Erika und winkte mit den Armen.
„Haben Sie die Notbremse gezogen?“, fragte die Schaffnerin empört, als sie Erika und Dr. Ohio erreichte.
„Schnell, öffnen Sie die Tür.“ Ohio zeigte auf den weißen Qualm, der jetzt auch aus den seitlichen Ritzen der Tür drang. „Da ist jemand drin.“
Die Schaffnerin betrachtete ihn misstrauisch, bemerkte aber ebenfalls den Rauch. Sie kniff die Lippen zusammen, holte einen Vierkantschlüssel heraus und drehte ihn ein-, zwei-, dreimal. Dann gab es ein klickendes Geräusch.
„Da hat jemand von außen abgeschlossen“, sagte sie leise zu Dr. Ohio und drehte sich zu den Leuten um, die auf dem Gang standen und jede Neuigkeit an die weiter hinten Stehenden weitergaben.
„Treten Sie bitte zurück!“, rief sie, und gleich darauf reflexartig: „Es besteht keine Gefahr, aber halten Sie Abstand.“
Vorsichtig öffnete sie die Tür einen Spalt und sah in die Toilette. Dr. Ohio spähte über ihre Schulter. Auf dem Boden und an den Wänden züngelten kleine bläulichgrüne und orangefarbene Flammen, der ganze Raum war voll weißlich grauem Rauch. Zischend schmolz das Plastik an den Wänden herunter und verbreitete einen ätzenden Gestank. Die Schaffnerin öffnete die Tür vollends und Dr. Ohio drängte sich an ihr vorbei.
Boris hatte sich aufs Waschbecken geflüchtet und hing mit dem
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