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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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stocherte Prok ein wenig in seiner Vorspeise herum: Corned beef und Kohl, ohne Kartoffeln – er aß nie welche. »Heute abend werden wir etwas tun, was noch nie ein Forscher gewagt hat, jedenfalls nicht daß ich wüßte: Wir werden den Akt selbst beobachten, seine Ausübung. Es ist alles vorbereitet.«
Mit klopfenden Herzen schwiegen wir, bis er hinzufügte: »Bei einer der jungen Frauen. Wir werden in ihrem Zimmer – eigentlich in ihrem Wandschrank – versteckt sein, wenn sie ihre Freier bedient.«
»Du meinst«, entfuhr es mir, »wir werden sie belauschen, als ... als wären wir ... na ja ... Spanner?«
»Voyeure«, korrigierte mich Corcoran mit einem leisen Lächeln.
Prok sah uns an. »Ja«, sagte er. »Genau so.«
    Jean Sibelius, einer von Proks erklärten Favoriten, hatte im Mittelpunkt des vorigen musikalischen Abends gestanden. Ich war ohne große Begeisterung hingegangen, aber angenehm überrascht worden. Swing war, wie gesagt, mehr nach meinem Geschmack als klassische Musik, aber die Stücke, die Prok für den Abend ausgewählt hatte, waren melodisch und warm, beinahe verträumt, und bevor ich wußte, wie mir geschah, rückte alles ringsumher von mir ab, und ich überließ mich der Musik wie einer Naturgewalt. Etwas Ähnliches geschah wahrscheinlich, wenn man Jitterbug tanzte – Iris und ich, direkt vor der Bühne –, doch da wurde es vom Rausch des Augenblicks und dem herzschlagähnlichen Wummern der Baßtrommel bewirkt. Das hier war anders. Kaum hatte die Nadel auf der Platte aufgesetzt, da versank ich ganz ruhig und entspannt in träumerischen Betrachtungen, und meine Gedanken glitten ohne Logik und Zusammenhang von einem Gegenstand zum anderen. Zum ersten Mal begriff ich, was die Musik für Prok war und warum er sich so dafür begeisterte.
    Iris und ich waren ausnahmsweise pünktlich, und ich setzte mich, wie Prok es von mir erwartete, auf einen Stuhl in der ersten Reihe. Iris saß zwischen Corcoran und mir, die Präliminarien beschränkten sich diesmal auf weiche Cracker, Obstpunch ohne Rum und ein bißchen Geplauder mit President Wells, und ich weiß noch, daß ich über Wells nachdachte, als er neben mir Platz nahm. Er war ein kleiner, rundlicher, energischer Mann, der Prok gegen den Sturm von Kritik, Beschimpfungen und zweideutigen Anspielungen, der uns ständig entgegenwehte, in Schutz nahm, und dennoch war er über vierzig und unverheiratet, und das war zu jener Zeit, an jenem Ort eigenartig, sehr eigenartig. Ich nahm mir vor, bei nächster Gelegenheit einen Blick in seine Geschichte zu werfen.
Es war kühl im Raum. Prok hatte den Thermostaten heruntergeschaltet, in der Annahme, daß die Körperwärme seiner Gäste den Raum ausreichend heizen würde – sie und die Klangfarbe der Musik. Im Kamin brannte ein kleines Feuer, doch es erstarb, denn Prok hatte keine Lust, sich darum zu kümmern, wenn eine Platte spielte, und wer konnte ihm das verdenken? Also froren wir, und mir taten die Gäste ein wenig leid, die zum ersten Mal da waren und sich, im Gegensatz zu Iris, Corcoran und mir, nicht wie für ein Freiluftkonzert gekleidet hatten. Dennoch war Prok so liebenswürdig und herzlich wie immer und machte uns kurz mit dem Leben des Komponisten und dem Stück, das wir hören würden, bekannt. Er sprach über Sibelius’ Liebe zu seiner Heimat Finnland, über den Zauber der Wälder, die er in seinen Klangbildern heraufbeschwor, und darüber, daß die Mehrzahl seines emotionsreichen Schaffens auf dem finnischen Nationalepos Kalevala beruhte. Es wurde still, als er zum Grammophon ging, die Nadel prüfte und sie auf die Platte setzte. Wir hörten den »Schwan von Tuonela« und eine Auswahl aus »Pohjolas Tochter«, und ich schloß, wie gesagt, einfach die Augen und ließ mich von der Musik davontragen. Es gab eine Pause, in der Mac alkoholfreie Erfrischungen anbot und die Gäste sich erhoben und ein wenig plauderten, und danach hörten wir noch einige Lieder – ich erinnere mich ganz deutlich an »War es ein Traum?« und »Das Mägdlein war beim Stelldichein«, denn ich kaufte mir bei nächster Gelegenheit eine Platte mit diesen Stücken, und ich liebe sie noch heute. Danach brach man auf. Ich erwähne das alles nur, weil in der Pause etwas geschah – oder auch nur vielleicht geschah, denn ich bin nicht sicher, ob es der Beginn von etwas war, habe aber einen gewissen Verdacht.
    Jedenfalls gab ich mir mit einer Handvoll ledriger Cracker und einem Becher voll abgestandenem Punsch alle Mühe, eine gute

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