Dr. Sex
Cocktail getrunken, ebenso wie Corcoran, aber davon wollte Prok nichts wissen. Wir würden bis in die frühen Morgenstunden die verschiedensten Bars aufsuchen, und da das unvermeidlich mit dem Genuß eines gewissen Quantums Alkohol verbunden sein würde, bestand kein Grund, bereits jetzt damit anzufangen – ein betrunkener Interviewer war das letzte, was er brauchen konnte. Das sahen wir doch sicher genauso, oder? Ja, natürlich sahen wir das genauso, wenn auch widerwillig, und als der Kellner unsere Speisekarten mitnahm, wechselten Corcoran und ich über unsere Gläser mit jungfräulichem Sodawasser hinweg einen Blick, und ich hatte das Gefühl, einen Verbündeten gefunden zu haben. Wir waren Proks Gefolgsleute – und zwar immer und freiwillig –, aber wir konnten auf unsere eigene verschwörerische Art rebellieren, und das gab mir das Gefühl, ein klein wenig aufsässig zu sein. Es war, als hätte ich einen großen Bruder gefunden, den ich unter dem Tisch anstoßen konnte, wenn unser Vater nicht hinsah.
Wir nippten also an unserem Sodawasser, während Prok eine CocaCola trank (»Ich mag dieses Zeug eigentlich gar nicht«, behauptete er, obgleich sein Appetit auf Süßes legendär war, »aber das Koffein ist gut, das hält mich wach«) und unseren Schlachtplan für den Abend entwarf. »Ich glaube«, sagte er und sah sich in dem beinahe leeren Speisesaal des Hotels um, »daß wir heute abend einige exzellente Daten sammeln werden, die Art von Geschichten hochaktiver Menschen aus den unteren Schichten, die wir als statistischen Ausgleich brauchen – du erinnerst dich sicher an Gary, Milk, und was wir dort für Funde gemacht haben –, aber das ist noch nicht genug.«
Das Hotel gehörte zur mittleren bis unteren Kategorie, und das dazugehörige Restaurant war wirklich nichts Besonderes, denn auch in diesem Punkt war Prok der Meinung, es sei unnötig, Projektmittel für flüchtigen Luxus aufzuwenden. Er legte Messer und Gabel sorgfältig neben dem Salatteller ab, auf dem drei Scheiben eingelegte rote Bete neben einem bräunlichen Salatblatt in einer unappetitlichen Pfütze schwammen.
»Was meinen Sie damit?« fragte Corcoran. »Die Daten, die Sie mir gezeigt haben – Sie und John natürlich –, sind genauer und umfassender als alle, die irgendwelche anderen Forscher gesammelt haben.«
Prok sah sich abermals um und vergewisserte sich, daß uns nie- mand belauschte. Dann beugte er sich vor. »Mein Gedankengang war folgender: Es ist ja ganz gut und schön, mündliche Schilderungen sexueller Aktivitäten aufzuzeichnen, es ist unerläßlich, es ist das Fundament dessen, was wir erreichen wollen – aber trotzdem könnten wir viel, viel mehr tun.«
Corcorans Blick schoß zu mir, aber ich zuckte nur ganz leicht die Schultern. Ich konnte mir nicht vorstellen, worauf Prok hinauswollte.
»Ich habe für heute abend eine kleine Änderung arrangiert«, sagte Prok, nahm seine Gabel, betrachtete sie, als hätte er ein solches Utensil noch nie gesehen, und legte sie wieder hin, als wäre ihre Funktion ihm ein Rätsel. »Ich will es mal so sagen«, fuhr er fort. »Unserer Spezies ist es gelungen, Tiere zu domestizieren und in den verschiedensten Rassen zu züchten, ihre sexuellen Aktivitäten also zu beobachten und in die gewünschten Bahnen zu lenken. Nur bei Menschen ist uns das nicht gelungen. Die sexuellen Aktivitäten zu beobachten, meine ich.«
»Ja, natürlich.« Corcoran erwärmte sich für den Gedanken. »Wir ergehen uns zwar in sexuellen Aktivitäten, aber wir beobachten uns dabei nicht. Wir sind dabei nicht gerade Wissenschaftler, stimmt’s, John?«
»Tja«, sagte ich, »na ja, stimmt schon«, und grinste. »Im Eifer des Gefechts denkt man nicht in wissenschaftlichen Kategorien, das tut niemand –«
»Richtig. Wo ist da deine Objektivität?« Corcoran strahlte. Er war einem Gedanken auf der Spur. Der Augenblick gehörte ihm. »Wenn du mit einer Frau zusammen bist, in den Fängen der Leidenschaft, ist alles andere, jede andere Überlegung vergessen, und an einem gewissen Punkt ist es sogar ganz egal, wie sie aussieht, solange sie nur –«
»Genau.« Prok sah uns zufrieden an. Seine blauen Augen ließen uns nicht los, als er verstummte, weil der Kellner an den Tisch trat und wir uns schweigend das dampfende Essen servieren ließen. Der Mann blieb hoffnungsvoll stehen – konnte er uns noch etwas bringen? –, doch Prok winkte ab. Als der Kellner zu seinem Platz am anderen Ende des Saals zurückgekehrt war,
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