Dr. Sex
die Aufmerksamkeit gebührten ihm allein, und sie müsse sich im Hintergrund halten, damit er das genießen könne. Aber man ließ sie nicht. Besonders schlimm waren die Frauenzeitschriften: McCall’s, Redbook, Cosmopolitan. Sie wollten sich an Details weiden, sie insistierten, sie suchten und stocherten, in der verzweifelten Hoffnung, auf etwas Seltsames, Ungewöhnliches zu stoßen, etwas Abseitiges, das ihren Leserinnen helfen konnte, diesen ganzen Männerkram in die richtige Perspektive zu rücken. Wer war sie? Wer war sie wirklich?
Mac lud sie allesamt ein, damit sie sich ihre Fragen selbst beantworten konnten: Sie war bloß eine ganz normale Hausfrau und unterschied sich von den Leserinnen dieser Zeitschriften nur insofern, als ihr Mann jeden Morgen ins Institut für Sexualforschung ging, während andere Männer mit ihren Lunchpaketen in die Fabrik oder ein Büro in der Innenstadt fuhren. Sie buk Plätzchen und Persimonentörtchen für die Journalistinnen und saß strickend im Schaukelstuhl, um zu demonstrieren, wie ihr Alltag aussah. Als man sie fragte, ob sich ihr Leben nicht sehr bald schon verändern würde, ob die Tantiemen sie nicht so reich machen würden, daß sie sich in Pelze kleiden und Putzen, Kochen und die übrige Hausarbeit irgendwelchen Hausangestellten überlassen könnte, wies sie mißmutig darauf hin, daß alle Einkünfte aus dem Verkauf von Das sexuelle Verhalten des Mannes dem Institut zugute kämen und sie selbst nicht einen Cent davon sähen, ja daß das Buch sie eigentlich Geld gekostet habe, weil es Prok davon abgehalten habe, sein Biologie-Lehrbuch zu überarbeiten, das jährlich wenigstens ein bißchen abgeworfen habe. Sie sollten sich doch Proks Garderobe ansehen – er habe nur einen einzigen guten Anzug. Reich? Sie seien alles andere als das. Mac präsentierte genau das, was Prok von ihr erwartete: eine Art biederer, keimfreier Wärme, die die Kritiker auf Abstand hielt und die Hausfrauen Amerikas derart beruhigte, daß einige von ihnen sich Mac vielleicht sogar ein wenig überlegen fühlten. Es war eine bravouröse Leistung.
Doch ich greife vor und habe das alles nur erwähnt, weil ich Ihnen vor Augen führen wollte, wie wichtig es war, daß wir – wir alle – unsere Aktivitäten geheimhielten und niemals irgend etwas taten, was als Unschicklichkeit oder Abweichung von irgendeiner Norm gedeutet werden konnte. Also waren wir alle verheiratet, und zwar – nach außen hin zumindest – glücklich, und wir hatten Kinder. Wir mußten der Öffentlichkeit eine makellose Fassade präsentieren: Wir waren Sexualwissenschaftler, und wir waren absolut und entschieden normal. Keine Abartigkeiten, kein Partnertausch, kein Sadomasochismus, keine Sodomie – doch im Lauf der Jahre nahm die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu, und alles wurde noch problematischer. Und Prok. Prok schien in seine Rolle hineinzuwachsen, er versuchte immer häufiger und verwegener, die Grenzen, und zwar sowohl in privater wie in beruflicher Hinsicht, weiter hinauszuschieben. In späteren Jahren warteten wir alle auf die Katastrophe, darauf, daß Prok festgenommen und vor den Kameras der Fotografen in Handschellen abgeführt wurde, weil er in einer Bedürfnisanstalt einen Sexpartner gesucht hatte oder in einem der öffentlichen Bäder, die er bei unseren Feldstudien immer häufiger aufsuchte, bei unmoralischen Handlungen ertappt worden war. Es geschah nie. Zum Teil kann man das wohl seinem Glück zuschreiben, doch meistens war er tatsächlich vorsichtig – so nahm er nur diejenigen in den engsten Kreis auf, denen er absolut vertraute. Und außerdem war da noch die Unangreifbarkeit der Person, die er der Öffentlichkeit präsentierte: Er war Dr. Alfred C. Kinsey, Professor für Zoologie, Vater dreier Kinder, glücklich verheiratet und über jeden Verdacht, und sei es auch nur ein Gerücht, erhaben. Er errichtete eine Festung – Daten wurden zu Steinen, die er übereinanderschichtete, und wir erkletterten diese Mauern und besetzten die Wehrgänge.
Als Violet Corcoran eingetroffen war und sich mit den Mädchen ein wenig eingelebt hatte, ließ Prok es sich daher angelegen sein, im Bryan Park ein Picknick zu veranstalten – nur für uns sechs und die Kinder. Ich glaube, das war seine Methode, schwierige Situationen, die auftauchen mochten, auszubügeln und zugleich das Band zwischen uns zu stärken. Das war einer der Vorzüge, wenn man für Prok arbeitete, wenn er einen unter seine Fittiche genommen hatte: Er
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