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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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seine Tür, das können Sie mir glauben), und zwar ganz bewußt, um irregeleitete Marketingmaßnahmen oder vollmundige Publicity zu vermeiden, die unsere Forschungsergebnisse möglicherweise trivialisiert und marktschreierisch verkürzt dargestellt hätten. Wir wollten vor allem als Wissenschaftler anerkannt werden, wir wollten die Sexualwissenschaft legitimieren, damit sie den ihr gebührenden Platz unter den Sozialwissenschaften einnehmen konnte, doch zugleich war Prok von echtem Reformeifer beseelt und wollte unsere Ergebnisse einer möglichst breiten Öffentlichkeit zugänglich machen. Und so ließ er sich interviewen – es waren regelrechte Pressekonferenzen –, damit die Welt davon erfuhr, allerdings auf eine nüchterne, rationale, zurückhaltende Weise. Und er entschied sich dafür, das Buch als unscheinbares, schmuckloses Hardcover erscheinen zu lassen, das sich in nichts von den anderen wissenschaftlichen oder medizinischen Handbüchern unterschied, die ihr Dasein in den hinteren Regalen von Buchhandlungen, Bibliotheken oder Arztpraxen fristeten. Es kostete sechs Dollar fünfzig, das war damals mehr als doppelt soviel wie der durchschnittliche Preis eines Buchs, aber dafür bekam man 804 Seiten, inklusive Anhang, Tabellen, Bibliographie und Index. Und gewidmet war es ganz nüchtern »den zwölftausend Personen, die die Angaben gemacht haben, auf denen dieses Buch beruht, und den achtundachtzigtausend anderen, die im Lauf der Zeit dazu beitragen werden, diese Studie abzuschließen«.
    »Nüchtern«, »seriös«, »klinisch« – ganz gleich, welches Adjektiv man benutzte, die Presse sah das ganz anders. Jede Zeitung, jede Zeitschrift im Land brachte reißerische Schlagzeilen: »50% DER VERHEIRATETEN MÄNNER UNTREU!« – »VOREHELICHER GESCHLECHTSVERKEHR GREIFT UM SICH!« – »KINSEY: HÖHEPUNKT DER SEXUELLEN AKTIVITÄT BEI MÄNNERN ZEHN JAHRE FRÜHER ALS BEI FRAUEN!« Solche Sachen eben, immer in fetten Großbuchstaben und gefolgt vom Peitschenknall des Ausrufezeichens. Das Buch verkaufte sich wie warme Semmeln, 40000 Exemplare in den ersten beiden Wochen, und bald führte es alle Bestsellerlisten des Landes an. Im März betrug die Auflage 100 000 Exemplare, im Juni 150000. Time bezeichnete es als größten Erfolg seit Vom Winde verweht. Und Prok, der jedes einzelne Wort geschrieben hatte, war plötzlich allgegenwärtig. Sein Gesicht starrte einem aus allen möglichen Publikationen entgegen, und seine Worte – seine Statistiken, unsere Statistiken – waren in aller Munde. Die Sache geriet derart außer Kontrolle, daß wir das Büro kaum noch betreten oder verlassen konnten, ohne von Reportern, Bewunderern und Sensationslüsternen umringt zu werden, und die Arbeit an unserem Projekt kam in diesen ersten Monaten vollkommen zum Erliegen. (Und kann sich noch jemand an diese Jukebox-Melodien erinnern – an Martha Raye mit »Ooh, Dr. Kinsey«, Julie Wilson mit »The Kinsey Report« und, am schlimmsten von allen, »The Kinsey Boogie«?)
    Für mich war das die Hölle. Vor einer Kamera hatte ich mich noch nie wohl gefühlt, und obgleich ich mich als Interviewer im Rahmen meiner Tätigkeit für recht fähig halte, bin ich, wie ich fürchte, als Interviewter eine Katastrophe. (»Du bist eben schüchtern, John«, sagte Iris immer, »nicht gehemmt, sondern bloß schüchtern.«) Für Mac war es ebenfalls schwer. Wenn die Reporter versuchten, Corcoran und mich – und Rutledge, der inzwischen zu uns gestoßen war – in die Enge zu treiben, konnten wir ihnen eine geschlossene Front präsentieren, und in den Augen der Presse waren wir ohnehin zweitrangig, lediglich Begleitmusiker unseres Bandleaders Prok, doch Mac war ihnen schutzlos preisgegeben. Wenn Das sexuelle Verhalten des Mannes die Männer so zeigte, wie sie waren – als menschliche Säugetiere, die sich allen möglichen sexuellen Aktivitäten hingaben, von Analverkehr über außereheliche Affären bis hin zu geschlechtlichem Umgang mit nichtmenschlichen Säugetieren –, wie war dann das Leben mit einem Mann, der dieses Verhalten quantifizierte und korrelierte? Wie sah die weibliche Perspektive aus?
    Mac gab ein Interview nach dem anderen, sie ertrug den Druck und das Rampenlicht, als wäre sie damit aufgewachsen, doch ich wußte es besser. Im Gegensatz zu mir war sie nicht zurückhaltend, aber sie hatte sich immer als Begleiterin verstanden, als Proks Helferin; sie fand, der Lohn für seine unermüdliche Arbeit und seine geniale Konzeption, all der Ruhm und

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