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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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und erwiderte meinen Blick nicht. »Außerdem«, fuhr ich fort, »wenn irgend jemand das Recht hätte, sich, na ja, aufzuregen, dann wären das wohl ich ... und Violet. Was ist mit ihr? Ist sie nicht die Leidtragende? Denn wenn ... Na ja, du weißt schon, was ich meine.«
    Sie sah auf, mit Tränen in den Augen, und um ihren Mund spielte ein ganz leises ironisches Lächeln. »Ja, John«, sagte sie, »du bist der Leidtragende, du, immer du.«
    »Das ist ungerecht«, sagte ich, »und das weißt du.«
    Sie zog die Knie an die Brust, als wollte sie sich schützen, sah mich lange an und schlug dann die Augen nieder. Ich hätte noch mehr sagen können, hätte ihr noch mehr Vorwürfe machen können, aber wozu?
    »Das ist ungerecht«, wiederholte ich.
Sie zögerte einen Augenblick, und als sie dann sprach, war ihre Stimme beinahe unhörbar. »Ich weiß«, sagte sie.
    Doch jetzt hackte sie Zwiebeln und würde die gewürfelten Kartoffeln gleich mit einer Mischung aus Essig und Mayonnaise übergießen, und wenn das erledigt und der Kartoffelsalat mit Eierscheiben und etwas Paprikapulver gekrönt war, würde sie ms Schlafzimmer gehen und Shorts und eine Bluse anziehen, und dann würden wir den schweren Picknickkorb nehmen und gemeinsam die Straße hinuntergehen wie ein liebendes Paar. Aus dem Schlafzimmer hörte ich Billie Holiday ihr Los beklagen: Two or three girls he has / That he likes as
    well as me /But I love him ...
    Prok war an jenem Tag sehr aufgeregt – er hatte mit einem über sechzigjährigen Mann korrespondiert, dessen sexuelle Aktivitäten im Hinblick auf Quantität und Variationsbreite alles in den Schatten stellten, was uns bisher begegnet war, und dieser Mann hatte angedeutet, er sei einem Interview nicht abgeneigt –, und er strahlte Iris mit seiner ganzen Begeisterung an, schenkte ihr sein charmantestes Prok-Lächeln, verbeugte sich wie ein Kavalier alter Schule und küßte ihr die Hand. Er klopfte mir auf die Schulter, nannte mich John und versicherte mir, wir seien dabei, etwas Großes zu schaffen, etwas Großes, etwas immer Größeres. Mac und Iris umarmten einander unbeholfen wie Kriegsveteranen, als hätten sie Angst, alte Wunden aufzureißen. Dann wandten sie sich dem Feuer zu, das Prok bereits zu einem gebremsten Inferno geschürt hatte, weil er, vorausschauend wie immer, an die Glut gedacht hatte, über der wir später Koteletts und Bratwürste grillen würden.
    Ich beobachtete Iris, als das gelbe Cabrio auf der gegenüberliegenden Straßenseite anhielt. Corcoran war am Steuer, er lächelte wie ein Botschafter und winkte uns schon von weitem zu, Violet saß majestätisch neben ihm, und Daphne und Lucy, die beiden Mädchen, stiegen in identischen rosafarbenen Kleidern und mit den vollkommen gesammelten Gesichtern der Unschuldigen aus. Iris war vielleicht ein wenig blasser als sonst, vielleicht ein wenig dünner und schmaler, als wäre sie in ihren Kleidern etwas geschrumpft, doch als Violet über die weite Rasenfläche zu uns gekommen war, mit gestrafften Schultern und spitzen Brüsten, die ihr den Weg wiesen, schüttelte Iris ihr die Hand und lächelte und plauderte mit ihr, als wäre nie etwas gewesen. Und Corcoran. Sie sah ihm ins Gesicht, lächelte ihr fröhlichstes, herzlichstes, unerschütterlichstes Lächeln und plauderte auch mit ihm, und bald saßen wir auf der Decke, hörten Prok zu und tranken Punsch, während die Sonne freundlich auf uns herabschien und die beiden Mädchen ein Stück entfernt brav miteinander spielten.
    Prok war, wie gesagt, ein begeisterter Camper und genoß es, vor dem Feuer zu hocken und zuzusehen, wie das Fleisch auf dem Grill langsam gar wurde. (Er aß nur wenig davon, denn er verabscheute alle Speisen, die er als »trocken« bezeichnete, und dazu gehörten auch Steaks und Koteletts, die er zu lange auf dem Grill liegenließ – ich muß leider sagen, daß er das stets tat.) Der Geruch des offenen Feuers trug mich zurück zu unserer Hochzeitsreise und den ersten Mahlzeiten, die Iris und ich gemeinsam zubereitet hatten, und noch weiter, in meine Kindheit und den Wald hinter dem Haus, und vielleicht hatten die anderen ähnliche Gedanken – es war ein heiterer, fauler Tag, und der Rauch trieb in wirbelnden Fetzen über die Rasenfläche. All die kleinen Mißstimmungen, die vielleicht dagewesen waren, schienen sich aufzulösen, der Nachmittag ging dahin, und alle entspannten sich. Ich half ihnen dabei, denn ich hatte in den Tiefen unseres Picknickkorbs eine Flasche

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