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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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Bühne. Es gab nur einen einzigen Zwischenfall, der mich heute noch beunruhigt, obwohl ich nicht mal weiß, warum. Der Proband war ein junger Mann, der kürzlich, nach der Amputation seines rechten Unterarms, aus dem Krieg heimgekehrt war. Es war eine lange Nacht gewesen, und dies war mein letztes Interview. Mit den vorangegangenen Befragten hatte ich geraucht und getrunken, und nun war ich ziemlich müde. Ich hatte den Mann in der Hotelhalle begrüßt, wobei es einen kleinen Zwischenfall gegeben hatte – er hatte mir die linke Hand hingestreckt, und ich hatte nicht gleich reagiert –, und dann waren wir mit dem Aufzug hinaufgefahren zu dem Zimmer, das Prok für die Interviews reserviert hatte. Der Mann war bei der Marine gewesen, und obwohl seine Haut mittlerweile nicht mehr so gebräunt war, hätte er mit seinem blonden, etwas links von der Mitte gescheitelten Haar, dem großspurigen Gang und den harten Seemannsmuskeln ein Billy Budd unserer Zeit sein können. Er war neunzehn. Er hatte die Schule bis zur achten Klasse besucht, seine Eltern lebten in Oklahoma City, und er verdiente seinen Lebensunterhalt als Stricher, seit er aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Ich gab ihm den vereinbarten Dollar, er setzte sich auf das Bett, ich nahm im Sessel Platz, und wir begannen zu plaudern.
Anfangs lief es ganz gut, doch bald wurde deutlich, daß er irgend etwas genommen hatte – Benzedrin, wie sich herausstellte, das er sich verschaffte, indem er Inhalationsstifte aufbrach und die mit Wirkstoffen getränkten Wattebäusche schluckte. Er wurde so redselig, daß ich auf jede Frage eine endlose, hektisch dahinjagende Antwort erhielt, so weitschweifig, daß ich irgendwann vergaß, was ich hier überhaupt tat. Wir hatten die bereits beschriebene Technik der Schnellfeuer-Befragung gelernt und wußten, wie man den Befragten unterbrechen mußte, um ihn wieder zum Thema zu bringen, aber bei diesem Mann – diesem Matrosen – fruchtete nichts. Seine Schilderung der dreiundfünfzig Pflanzenarten in dem Gewächshaus, wo sein erster homosexueller Partner, ein älterer Mann, gearbeitet hatte, entnervte mich derart, daß ich aufstand und begann, auf und ab zu gehen.
Er hielt mitten im Satz inne und warf mir einen seltsamen Blick zu. Eigentlich war es ein aggressiver Blick. »Was?« sagte er. »Das interessiert Sie nicht? Ich dachte, wir hätten uns darauf verständigt, daß Sie Informationen wollen, stimmt’s? Die Geschichte meines Lebens und so weiter für einen Dollar. Und jetzt? Ist irgendwas?« Er sah mir in die Augen. »Wollen Sie vielleicht mehr als bloß ‘ne Geschichte?«
»Nein, keineswegs. Ich wünschte nur, daß Sie ... Verstehen Sie mich bitte nicht falsch – ich möchte nicht, daß Sie denken, ich wäre unhöflich oder wollte Ihre Antworten in irgendeiner Weise beeinflussen –, aber ich wünschte, Sie würden sich an das Format dieser Befragung halten, sonst dauert das hier nämlich noch die ganze Nacht.«
»Und was wäre daran so schlimm?« Er hatte sich vom Bett erhoben und sah mich mit einem Lächeln an, das er vermutlich für verführerisch hielt und das er in der Sauna, in den Pissoirs der Grand Central Station und unten, in der Bar des Astor-Hotels, einsetzte. »Sie wollen mich doch nicht loswerden? Jetzt schon?«
»Natürlich nicht«, sagte ich. »Aber wenn wir ein Interview wie dieses nicht zu Ende bringen, steht die Verläßlichkeit der ganzen Erhebung in Frage. Das verstehen Sie doch, oder?«
Er sagte nichts, sondern kam quer durch den Raum auf mich zu – der rechte Ärmel seines Velourshemds hing leer herab – und drückte sich an mich. Er legte die Hand auf den Schritt meiner Hose. Ich erstarrte. Das war es, was wir in solchen Fällen tun sollten: unbeteiligt bleiben und alle Annäherungsversuche zurückweisen. Er versuchte mich zu küssen, aber ich wandte das Gesicht ab, und seine Lippen strichen über meine Wange. »Na komm schon«, murmelte er. Seine Stimme war leise und weich vor Lust oder dem, was er dafür ausgab. »Du weißt doch, daß du das willst. Warum hörst du nicht auf, dich zu verstellen? Wissenschaft! Du bist genausowenig Wissenschaftler wie ich.«
Ich ließ ihn stehen, setzte mich wieder geschäftsmäßig – und dies war ja ein Geschäft – in den Sessel und versicherte ihm, ich sei nur aus einem einzigen Grund hier. Innerlich verfluchte ich mich, weil ich aufgestanden war. Es war unprofessionell. Es hatte die Atmosphäre gestört und dem Mann einen falschen Eindruck vermittelt.

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