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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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»Und Ihr zweiter Kontakt?« fragte ich und bemühte mich, meine Stimme zu beherrschen. »Können Sie sich daran erinnern? Wie alt Sie damals waren? War das kurz nach Ihrer ersten Erfahrung mit dem Mann im Gewächshaus?«
Er gab keine Antwort. Zum ersten Mal, seit er das Zimmer betreten hatte, fiel ihm nichts ein, als wäre die Droge ein Güterzug, der durch seine Adern fuhr, und als wäre dieser Zug in irgendeiner Kurve entgleist. Er stand einen Augenblick da und trat von einem Fuß auf den anderen. Seine Hand ballte sich zur Faust und entspannte sich wieder, und ich hörte das Knirschen seiner Backenzähne. »Vielleicht«, sagte er schließlich, »findest du mich nicht attraktiv genug. Ist es deswegen?« Er hob den rechten Arm, so daß der Ärmel leer baumelte.
»Das ist nicht der Grund, warum ich hier bin.«
»Ach, nein? Ich hab dich gerade angefaßt. Ich hatte deinen Schwanz in der Hand.«
»Was ist mit Frauen?« sagte ich, denn wenn man professionell sein will, darf man sich von den Probanden nicht ablenken lassen. »Wann haben Sie zum ersten Mal eine nackte Frau gesehen?«
»Für einen Dollar blas ich dir einen«, sagte er, beugte sich über den Sessel und starrte mir in die Augen.
»Ich habe Ihnen doch eben schon gesagt: Das ist nicht der Grund, warum ich hier bin. Beantworten Sie meine Frage. Bitte.«
Er beugte sich noch weiter herunter und versuchte abermals, mich zu küssen, doch ich schob ihn energisch von mir, so energisch, wie es mir im Sitzen möglich war. Er richtete sich langsam auf und stand mit wiegenden Hüften und knirschenden Zähnen vor mir. »Du machst keinem was vor«, sagte er.
Das Entscheidende ist wohl, daß ich das Interview bekam: noch einen Satz Daten, den wir mit der Hollerith-Maschine verarbeiten konnten. Ich bekam immer mein Interview, ebenso wie meine Kollegen. Jedesmal. Wir setzten uns gegen alle Widerstände durch. Ist das nicht etwas, auf das man stolz sein kann? Jedenfalls standen wir am nächsten Morgen früh auf, duschten kalt, nahmen ein schlechtes Hotelfrühstück zu uns und machten bis zum Mittag noch ein paar Interviews. Dann packten wir die Koffer und schlenderten durch die Straßen, bis wir um fünf nach sechs den Spirit of St. Louis besteigen konnten, mit dem wir am folgenden Morgen um Viertel vor neun in Indianapolis eintreffen würden. Es war der 20. Dezember, die Luft war dünn vor Kälte, Weihnachtsmänner standen an den Straßenecken und läuteten ihre Glocken, Tauben trippelten auf den Bürgersteigen herum, der Geruch nach Holzkohlefeuern und Kastanien trieb durch den Nachmittag wie der versengte Geruch der Geschichte. Es war Weihnachtszeit in Manhattan, und in jedem Schaufenster sah man raffinierte Dekorationen: Spielzeug, Lebensmittel, alkoholische Getränke, Damenunterwäsche, Hüte, Pelze, Schmuck. Prok hatte bereits etwas für Mac gekauft, und Corcoran hatte für Violet eine Brosche mit dazu passenden Ohrclips gefunden – Violet liebte Broschen und trug sie auf der linken Brust, wie Männer ein Einstecktuch oder eine Blume im Knopfloch tragen –, doch ich hatte noch nichts für Iris. Ich machte mich allein auf die Suche, versehen mit zahllosen Ermahnungen von Prok (Komm nicht zu spät, verlauf dichnicht, sieh nach rechts und links, wenn du über die Straße gehst, laß dich nicht übers Ohr hauen, paß gut auf deine Brieftasche auf). Er selbst ging mit Corcoran den Broadway hinunter, um sich Peepshows und andere zweifelhafte, auf Erotika spezialisierte Etablissements anzusehen, mit dem Hintergedanken, das eine oder andere für die Institutsbibliothek anzuschaffen. Ich kannte mich praktisch überhaupt nicht in der Stadt aus – wir sahen von New York kaum mehr als den Times Square, die vier Wände unserer Hotelzimmer und die Bahnhöfe –, und ich gebe gern zu, daß ich die ganze Zeit fürchtete, ich könnte mich verlaufen und den Zug verpassen. War ich ein Landei? Wahrscheinlich. Ein junger Bursche aus der Provinz, der durch diese riesige, polymorphe Stadt stolperte und unter zehn Millionen Dingen nach dem einen Geschenk suchte, das seine Frau am Weihnachtstag glücklich machen würde.
An die Rückfahrt kann ich mich nicht gut erinnern. Ich weiß nur noch, daß Prok lange aufblieb, um ein paar andere Passagiere zu interviewen, während ich mich auf meine Koje warf, als hätte man mich durch die Mangel gedreht, und ohne Unterbrechung schlief, bis Prok mich zum Frühstück weckte. An das, was ich Iris in jenem Jahr zu Weihnachten schenkte, erinnere ich mich

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