Dr. Sex
verantwortungslos, ich hielt das Projekt auf –, doch heute verspürte ich ein beinahe überirdisches Wohlgefühl, als könnte nichts mich berühren, keine Angst, keine Krankheit, kein Vorwurf. Eine Antwort erübrigte sich, aber mir lag eine auf der Zunge, und ich wartete noch ein wenig, um den Genuß auszukosten. Ich rührte mich nicht. Stand einfach an meinem Schreibtisch und betrachtete die heiligen Hallen des Büros, das goldene Lampenlicht, die Gallen, Prok. Iris war zu Hause, im Bett. Ihr war so übel, daß sie ihre Klasse von Siebenjährigen nicht unterrichten konnte. Ich hatte sie über der Kloschüssel würgen hören. Ich hatte ihre Hand gehalten. Ich hatte sie in eine Decke gewickelt, zurück zum Bett geführt und ihr trockenen Toast und ein Glas mit dem Rest des Ginger Ale von gestern abend gebracht. »Ich habe Neuigkeiten, Prok«, sagte ich. »Gute Neuigkeiten.«
Er hatte den Blick schon wieder auf die Papiere gerichtet, die vor ihm lagen, und sah mich nun hart und forschend an. Das pulsierende, unrhythmische Klappern von Mrs. Matthews’ Schreibmaschine endete abrupt am Zeilenende. Corcoran blickte auf.
»Es geht um Iris«, sagte ich und fühlte mich größer als sonst, überlebensgroß, der gefeierte Schauspieler, der Held, der Marathonläufer, der das Zielband zerreißt. Ich wußte, wie sie vermutlich über mich dachten. Ich war der Jüngste mit dem niedrigsten akademischen Grad, Proks Marionette, nicht einmal imstande, die elementarste biologische Funktion zu erfüllen. Doch das lag nun hinter mir. Ich hatte gleichgezogen. Ich war ein Mann, und war dies nicht geradezu die Definition von »Mann« ? Ich sagte: »Iris kriegt ... Iris kriegt ein Kind. Sie ist schwanger.«
Prok stieß einen leisen Pfiff aus. Mrs. Matthews – sie war in den Fünfzigern, Großmutter und Witwe – betrachtete mich mit einem schmelzenden Blick. Und Corcoran klatschte an seinem Tisch im hinteren Zimmer Beifall, worauf Rutledge den Kopf hob und mich fragend ansah.
»Wir haben’s gestern nacht erfahren. Gestern, meine ich. Als ich nach Hause kam, nach dem ... nach der ...«
Prok kam breit grinsend auf mich zu. Er packte meine Arme und hielt mich so, bis sein vertrauter Geruch – nach Seife, Gesichtswasser und einem Hauch von Hamamelis – mich einhüllte. »Ihr werdet Ratschläge brauchen, ihr werdet Mac brauchen«, sagte er und sah über meine Schulter auf die Wanduhr, als würde die Entbindung in einer Viertelstunde stattfinden. »Ihr braucht einen guten Frauenarzt. Zu wem geht Iris noch mal? Ich habe nämlich genau den richtigen ...«
Unglücklicherweise ergab es sich, daß ich im Herbst und im Winter viel mit dem Team unterwegs sein mußte, und daher hatte Iris ihre Anfälle morgendlicher Übelkeit oft genug allein zu erdulden. Der ausgerechnete Geburtstermin war erst im Juni, und so waren wir übereingekommen, daß sie ihre Stelle als Lehrerin in der Grundschule so lange wie möglich behalten sollte – das war natürlich ohnehin richtig, aber wir waren jetzt auch auf das Geld angewiesen, denn wir würden eine größere Wohnung brauchen, und meine Gehaltserhöhung ließ auf sich warten, obgleich ich sicher war, daß ich sie bekommen würde, sobald die Zuschüsse bewilligt waren. Wenn ich zu Hause war, tat ich mein Bestes, um Iris zu helfen: Ich kochte, erledigte den Abwasch und legte die Kleider für den nächsten Tag bereit. Sie war tapfer und beklagte sich nie über meine Arbeitszeiten – die waren in diesem Stadium eine Tatsache, an der nicht zu rütteln war –, und ich weiß noch, wie sie sich morgens, am Frühstückstisch, steif hochstemmte und die Zähne zusammenbiß in dem Bemühen, ein halbes weiches Ei und drei Schlucke Kaffee bei sich zu behalten.
Ich hatte ein schlechtes Gewissen. Und ich wäre froh gewesen, daheim bleiben und ihr durch diese Zeit helfen, bei ihr zu sein und das Wunder des Werdens in ihr miterleben zu können, doch das Projekt ging gerade durch eine entscheidende Phase. Im Jahr zuvor hatten wir einen Meilenstein erreicht – zehntausend Geschichten –, aber Prok drängte wie besessen auf mehr, denn bei der schriftlichen Formulierung unserer Forschungsergebnisse überkam ihn die Sorge, man könnte die Zahlen wegen statistischer Unausgewogenheit anzweifeln. (»Wir haben fünfhundertfünf Alkoholikerinnen«, murmelte er, »aber bloß ein mageres Grüppchen Schwarze aus der oberen Mittelschicht und praktisch keine Priester, Rabbis und dergleichen, ganz zu schweigen von Drogensüchtigen
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