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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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erkundigte sich Corcoran, beugte sich über den Tisch, nahm meine Hand und unterzog meine Fingernägel einer gespielt strengen Untersuchung. »Weiße Deckenfarbe, nehme ich an. Oder vom Gartenzaun?«
    In dem Durcheinander fand ich keine Gelegenheit, Prok zu fragen, was das Problem war – er ging gleich in das hintere Zimmer, um mit Rutledge etwas zu besprechen –, und ich vergaß die Sache, bis er uns etwa eine Stunde später zusammenrief. Wir hatten noch keinen Konferenztisch – und auch keinen Platz dafür –, und so holten wir uns einfach Stühle und setzten uns. Auch Prok nahm Platz, blieb aber nicht allzu lange sitzen. Er hatte eine Zeitung in der Hand, wedelte zweimal damit und hielt sie hoch, damit wir sie sehen konnten: Es war irgendeine Kleinstadtzeitung namens Star Gazette oder Journal
    Standard oder so. »Erinnert ihr euch an den Ort?« fragte er. Er war aufgestanden und bedachte uns mit einem vernichtenden Blick.
    Ja, wir erinnerten uns, wenn auch nur schwach. Es war einer dieser komatösen Orte im Mittleren Westen, und wir waren irgendwann in den vergangenen sechs Monaten dort gewesen, und möglicherweise hatte es dort eine Fabrik oder eine Gießerei gegeben, einen Getreidesilo, ein kleines lutheranisches College, und Prok hatte vor Mitgliedern des Verbands der Wählerinnen gesprochen oder vor dem Lions Club oder bei der Jahrestagung der anthropologischen Gesellschaft. Für uns spielte das kaum eine Rolle – wir sammelten unsere Daten und fuhren weiter.
    »War das nicht dieses Kaff in Minnesota?« Corcoran hatte sich, die kalte Pfeife im Mund, verkehrt herum auf den Stuhl gesetzt. »Wo wir uns auf die erfolglose Suche nach dem Bauern mit dem Riesenpenis gemacht haben? Dem angeblichen Riesenpenis.«
    Bei mir klingelte etwas. Prok hatte von einem Mann im Norden von Minnesota erfahren, dessen Penis im schlaffen Zustand angeblich sensationelle einunddreißig Zentimeter maß – ein örtlicher Arzt hatte Prok davon berichtet –, und wir hatten eine Vortragsreise in diese Gegend organisiert, um die Angaben zu überprüfen. Und wenn Sie es ein bißchen lächerlich finden, daß jemand sich auf die Suche nach einem angeblich besonderen Anhängsel eines anderen Menschen macht, dann muß ich Sie daran erinnern, daß genau das die Aufgabe eines mit Taxonomie befaßten Wissenschaftlers ist: die Erfassung der ganzen Bandbreite der Variationen innerhalb einer bestimmten Spezies, von den kleinsten bis zu den größten Unterscheidungsmerkmalen. Und wenn Sie des weiteren glauben, daß solche Individuen Spitznamen wie »Long John« haben und in der ganzen Gemeinde berühmt sind, dann muß ich Sie enttäuschen: Diese ungewöhnlichen Vertreter unserer Spezies, die sich am oberen oder unteren Ende der Skala befanden, waren unauffällig und so gut wie unbekannt. Ich weiß, daß wir nie eine größere Länge als dreiundzwanzig Zentimeter verifizieren konnten, und ich erinnere mich, daß der besagte Farmer immer ausgerechnet auf einem weit entfernten Feld war, wenn wir kamen, um mit ihm zu sprechen.
    »Nein«, sagte Prok mit verkniffenem Mund, »das war es nicht. Dieser Ort« – sein Zeigefinger klopfte auf den Zeitungskopf – »ist in Ohio. Aber es ist ganz unwichtig, ob ihr euch daran erinnert oder nicht. Wichtig – nein, eigentlich alarmierend – ist dieser Artikel unten links auf der Titelseite.« Er reichte die Zeitung Rutledge, der den Artikel überflog und sie dann Corcoran gab, von dem ich sie schließlich bekam. Der Bericht erschien mir recht harmlos – eine Wer-wann-woReportage aus dem Grundkurs Journalismus, in der Proks Vortrag im St. Agnes College beschrieben wurde, »vor einem sehr zahlreich erschienenen Publikum, das den Forschungsergebnissen des bekannten Sexualwissenschaftlers aufmerksam lauschte« –, doch Prok war wütend.
    »Ich habe mit dem Präsidenten von St. Agnes, dem Chefredakteur der Zeitung und dem betreffenden Journalisten gesprochen und keinen Zweifel daran gelassen, daß ich den Artikel als Bruch unserer mündlichen Vereinbarung betrachte, nach der keine Zahlen und keine wie auch immer gearteten Einzelheiten veröffentlicht werden sollten.« Seine Stimme klang metallisch, wie mit einer dünnen Lage Empörung überzogen, und wie immer bediente er sich einer präzisen Sprache, die um so förmlicher und geschliffener wurde, je mehr er sich in die Enge getrieben fühlte. »Und daß ich ferner rechtliche Schritte in Erwägung ziehe, da solche Indiskretionen hinsichtlich des von uns

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