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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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streitlustig und konnte sich nie dazu durchringen, mich direkt anzusprechen. Statt dessen sprach sie mit mir in der dritten Person: »Ist er hungrig? Möchte er hier sitzen?« Aber sie nahm einigen Druck von mir und leistete Iris Gesellschaft, und das war mir sehr recht, denn dies war die geschäftigste und kritischste Zeit, die das Projekt bislang erlebt hatte. Als Iris’ Mutter jedoch nach Michigan City zurückkehrte, fiel die Last, die bisher sie geschultert hatte, mir zu, und der Zeitpunkt dafür hätte nicht schlechter gewählt sein können. Ich gab mein Bestes. Iris hatte längst noch nicht ihre frühere Energie zurückgewonnen, und ich tat, was ich konnte, um ihr zu helfen: Ich ging einkaufen, erledigte eine Ladung Wäsche und so weiter, aber natürlich blieb einiges liegen, und es war eigentlich unvermeidlich, daß ich mich überlastet fühlte und verärgert war.
    Doch es soll nicht allzu negativ klingen, denn all das bewirkte auch ein Wunder: Ich lernte meinen Sohn kennen. Bis dahin war er, in Windeln und Tücher gehüllt, von einem Raum in den anderen getragen und von meiner Schwiegermutter an Iris weitergereicht worden, und ich hatte nie mehr als einen kurzen Blick auf das gerötete amorphe kleine Gesicht werfen können, doch sobald ihre Mutter abgereist war – genauer gesagt: als wir auf dem Rückweg von der Bushaltestelle in die Zufahrt unseres Hauses einbogen –, übergab Iris ihn mir wie einen Sack Gemüse, den sie nicht mehr von einer Hüfte auf die andere heben wollte. »Hier, nimm du ihn mal, John«, sagte sie, und da war er, ein überraschend schweres Bündel, das mir in den Arm gedrückt wurde. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Ich hatte Angst, ich könnte ihn fallen lassen oder seinen Kopf nicht richtig stützen, ich hatte Angst vor seinem Gewicht und seinen Bewegungen und der Art, wie er mühelos Luft holte und sie mit einem wütenden, unbarmherzigen Schrei ausstieß. Er war eine Zeitbombe. Er war aus Blei. Er hatte die Lunge eines Äolus. »Er ist nur ein Baby, John – er wird dich nicht beißen. Er hat ja noch nicht mal Zähne.« Sie sah mich und mein Gesicht an und brach in schallendes Gelächter aus.
    Ich lachte nicht. Ich war voller Ehrfurcht. Er war mein Sohn. Ich hielt ihn in den Armen, ich spürte sein Gewicht, seine Lebenskraft, und in mir regte sich etwas. John junior. Die Verbindung der Chromosomen. Er war das, woran wir gearbeitet hatten, er war das Endresultat, und er war kein Forschungsobjekt mehr.
    Aber das Buch. Das Projekt. Es stand den ganzen Sommer 1947 über im Mittelpunkt, und wenn unser – Corcorans, Rutledges, Iris’ und mein, ja sogar Mrs. Matthews’ – häusliches Leben damit in Konflikt kam, war Prok zur Stelle und erinnerte uns daran, wo die Prioritäten lagen. Je mehr er uns antrieb, desto besorgter wurde er auch, und die Presse tat nichts, was geeignet gewesen wäre, seine Ängste zu zerstreuen. Die Reporter wurden im Lauf des Sommers immer unverschämter und einfallsreicher. Ich war Skittering entkommen, doch es gab Dutzende andere, die sich auf die Spur dieser heißen Story gesetzt hatten, und jeder von ihnen wollte der erste sein, der die Öffentlichkeit über unsere Forschungsergebnisse informierte. Wir wurden mit Briefen, Telegrammen und Telefonanrufen bombardiert, und diese stammten durchaus nicht nur von den Fußsoldaten des Gewerbes, sondern kamen von Redakteuren und Chefredakteuren und in einigen Fällen sogar von den Eigentümern verschiedener Medienunternehmen persönlich. Man sollte nicht unterschätzen, wie sehr das Thema Sex die Phantasie der Menschen anzuregen vermag. Unser Interesse galt der Wissenschaft, doch der Presse ging es nur ums Geschäft und sonst um gar nichts. Die Zeitungen wollten hohe Auflagen, denn hohe Auflagen brachten viele Anzeigen, und viele Anzeigen brachten Umsatzsteigerungen, und die wiederum brachten noch mehr Anzeigen. Keiner aus unserem engsten Kreis hatte auch nur den leisesten Zweifel, daß sie die Tatsachen verdrehen würden, wie es ihnen gerade paßte.
    Schließlich war es Prok, dem eine Lösung einfiel. Die Journalisten gingen ihm zunehmend auf die Nerven, und einer der Reporter – ein sehr beharrlicher Mensch, der sich einfach nicht abweisen lassen wollte – brachte das Faß zum Überlaufen. Über einen Zeitraum von mehr als einem Monat erhielten wir täglich ein Telegramm von diesem Menschen (von dieser Nervensäge, wie Prok sich ausdrückte), in dem er um ein Interview bat, und jedesmal lehnte Prok mit

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