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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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drei Wochen Bettruhe, doch innerhalb einer Woche war Prok wieder auf den Beinen und zeichnete auf der Gefängnisfarm Geschichten auf, und bald war er wieder der reinste Wirbelwind, und ich vergaß die Sache, obwohl ich seine Blässe doch ständig vor Augen hatte. Und jetzt war er wieder am Rande der Erschöpfung, und ich versuchte, ihn zu beschützen – auch Mac und alle anderen taten ihr Bestes –, doch es war unmöglich. Er war wie aufgezogen, und das einzige, was ihn entspannen konnte, war Sex – und Sex mag zwar segensreich sein, dauert aber nur von der Erregung bis zum Orgasmus.
    In dieser Situation trat Professor Shadle auf den Plan. Er war, wie Sie vielleicht wissen, einer der ersten, die das sexuelle Verhalten von Tieren filmisch dokumentiert hatten, der Mann, dem es gelungen war, die Paarung von Stachelschweinen und anderen kuriosen Tieren zu filmen. Prok hatte ihn einige Jahre zuvor an der University of Buffalo, wo er Vorträge gehalten und Geschichten gesammelt hatte, kennengelernt und den Kontakt zu ihm nicht abreißen lassen, denn seine Filme wären eine unschätzbare Ergänzung unserer Forschung. Wie üblich wurde ich abgeordnet, um den Professor am Bahnhof zu begrüßen, und ich hatte Iris und das Baby mitgenommen. Es war Spätsommer, Das sexuelle Verhaltendes Mannes stand noch immer ganz oben auf den Bestsellerlisten, alle Radiosender spielten den »KinseyBoogie«, und die Hitze von Südindiana war wie ein lebendiges Wesen, das einem alle Flüssigkeit, alle Mineralien aus den Poren saugte. Wir trafen zu früh am Bahnhof ein, und ich kaufte ein Eis für Iris und sah zu, wie sie den Rand der Waffel ableckte und sich zu John junior beugte. Der versuchte, diese neue Substanz saugend und küssend zu begreifen, diesen festeren Stoff, süß und winterlich zugleich, und die Erinnerung daran verankerte sich in seinem kindlichen Gehirn an jener Stelle, wo das Lustzentrum sitzt: Eis. Eis. Es war ein außergewöhnlicher Augenblick. Und was war sein erstes Wort, als ihm dort, auf dem Bahnsteig, im Licht der Sonne über Indiana, das Ende der Sprachlosigkeit zuteil wurde?
    »Hast du das gehört?« Iris beugte sich über den Sportwagen. Geschmolzenes Vanilleeis lief ihr wie weißes Blut über die Finger, die Hände unseres Sohnes fuhrwerkten fröhlich herum, und der Zug fuhr unter durchdringendem Quietschen der Bremsen ein.
    »Was?«
»Johnny. Er hat gerade ganz deutlich ›Eis‹ gesagt.«
»Nein«, sagte ich. »Wirklich?«
»Sein erstes Wort, John. Eis. Ich hab’s genau gehört.«
In meiner Erinnerung ist ein Bild von diesem Augenblick: Iris, die bei John junior hockt, das Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, die Schultern nackt und sommersprossig, die heraufgerutschten Shorts, die Sandalen, die lackierten Zehennägel, die schimmernden Fußgewölbe, und dahinter der Zug, wie eine Illusion, eine bewegliche Wand, eine zauberische Kulisse. Ich beugte mich über meinen Sohn und sah mit einem Auge auf die Zugtüren, die sich zischend öffneten. »Eis«, sagte ich. »Eiscreme, Johnny.«
    Ein Rudern der drallen Ärmchen, ein Klatschen, als die klebrigen Hände einander trafen. Und dann das leise, gleitende Gurgeln: »Eisss«, sagte John junior. »Eisss.«
    Als ich aufsah, stand Professor Shadle, den Koffer in der Hand, auf dem Bahnsteig. Er war Mitte Sechzig und klein – sehr klein, beinahe zwergwüchsig –, er hatte einen ausgeprägten Embonpoint und ein paar Büschel weißer Haare, die ebensogut willkürlich über seinen Schädel verteilte Wattebäusche hätten sein können. »Hübsches Baby«, murmelte er.
    »Oh, entschuldigen Sie«, sagte ich, richtete mich auf und schüt- telte ihm die feuchte, zwergenhafte Hand. »Willkommen, Professor Shadle, willkommen in ... äh ... Indiana. Erinnern Sie sich? Wir ha- ben uns in Buffalo kennengelernt.«
    »Ja, sicher«, sagte er lispelnd. Seine Augen wichen meinem Blick aus. »Natürlich.«
»Und das ist meine Frau Iris. Und unser Sohn John.«
»Er hat gerade sein erstes Wort gesagt«, unterbrach mich Iris. Sie strahlte. »Außer ›Mama‹ und ›Papa‹, meine ich.«
Der Professor hob die Augenbrauen. »Tatsächlich? Und welches bedeutende Wort hat er gesprochen?«
»Eis«, sagten wir im Duett, und dann kam das Echo der kleinen Stimme unter uns. John junior war nicht mehr sprachlos. Ein Wort, so dünn wie ein Draht: »Eisss.«
»Wunderbar«, hauchte der Professor. »Einfach wunderbar.« Und dabei beließ er es.
Am Abend gab es zu Professor Shadles Ehren ein Essen im

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