Dr. Sex
eines Sittlichkeitsdelikts zu erwarten, die mir für den Rest meines Lebens anhängen würde, und ich überlegte bereits voller Panik, was ich meiner Mut- ter sagen würde – und was Iris. Förderung der Prostitution. So würde die Anklage lauten, oder? Unnatürlicher Verkehr? Unzucht? Verführung Minderjähriger? Ich sah mich schon im Staatsgefängnis, sah mich in gestreifter Häftlingskleidung hinausschlurfen, um den Hof zu harken.
Doch dann hörte ich, wie Prok Dean Briscoe, der unsanft aus seinem gemütlichen Bett in seinem gemütlichen Haus im paradiesischen Bloomington geholt worden war, mit kühler, beherrschter Stimme die Situation erklärte, und sah das Gesicht des Wachhabenden, als Prok ihm den Hörer reichte und Dekan Briscoe mit der Autorität seines Amtes die Angaben seines Kollegen bestätigte, und da erst wußte ich, daß die Krise überstanden war. Leider sah ich weder meinen Hut noch meinen Mantel jemals wieder, und leider konnten wir auf dieser Reise nur sechs Interviews durchführen, aber eines immerhin hatte uns dieser Zwischenfall gelehrt: Von da an hatte Prok stets einen von Dean Briscoe unterschriebenen Brief dabei, in dem dieser die Zielsetzung des Projekts erläuterte und erklärte, daß es die Unterstützung durch die höchsten Autoritäten der Indiana State University genieße. Der besagte Brief solle vorgelegt werden »für den Fall, daß Dr. Kinseys Forschungen ihn an Orte führen, wo der Zweck seiner Arbeit möglicherweise nicht klar erkannt wird«.
Zurück im sicheren Bloomington, erzählte ich Iris die Geschichte unseres Mißgeschicks in einer gekürzten Version und versuchte so- gar, witzig zu sein, obgleich meine seelischen Wunden noch längst nicht verheilt waren, doch Iris fand das alles keineswegs amüsant. Wir aßen in der Mensa zu Abend (Schweinebraten mit dunkler Sauce, ungleichmäßig gestampfter Kartoffelbrei und Wachsbohnen, die so zerkocht waren, daß sie wie etwas Wiedergekäutes aussahen), und sie hatte unschuldig gefragt, wie die Reise gewesen sei. Ich sagte es ihr, wobei ich einige der unschöneren Details etwas beschönigte, und schloß mit einer ausführlichen Klage über den Verlust von Hut und Mantel (für den mich Prok übrigens beim Ausstellen meines nächsten Gehaltsschecks entschädigte).
»Prostituierte, hm?« sagte sie.
Ich nickte. Die Deckenbeleuchtung ließ mein Gesicht aussehen wie das eines Wasserspeiers – ich sah es in dem langen, schmutzigen Spiegelstreifen an der Wand hinter Iris. Draußen regnete es, ein Ausläufer der ausgedehnten Regenfront, die uns in Gary erwischt hatte.
Iris war sehr blaß und preßte die Lippen zusammen. Sie legte Messer und Gabel sorgfältig auf den Teller, dabei hatte sie das Essen kaum angerührt. Als sie sprach, klang ihre Stimme belegt. »Gehst du oft zu Prostituierten?«
»Ah, nein«, sagte ich. »Natürlich nicht. Das versteht sich von selbst.«
»Hast du jemals ... Hast du schon mal mit einer geschlafen?«
Mir gefiel der darin enthaltene Vorwurf nicht, ebensowenig die Kritik oder die Herabsetzung meiner Professionalität und meiner Arbeit. Und nach dem, was ich in der vorangegangenen Nacht durchgemacht hatte, war ich besonders empfindlich. Sie hatte ja keine Ahnung. »Nein«, sagte ich barsch. »Sei nicht albern.«
»Hast du jemals mit einer geschlafen?«
»Iris, bitte. Wofür hältst du mich?«
»Hast du oder hast du nicht?«
»Nein. Und wenn du es ganz genau wissen willst: Bis gestern nacht habe ich noch nie eine Prostituierte gesehen, und ich würde sie, also Prostituierte, auch nicht anders behandeln als irgend jemand anderen. Bei den Interviews, meine ich. Du weißt genau, daß wir so viele Sexualberichte brauchen, wie wir kriegen können, wenn dieses Projekt erfolgreich sein soll. Wir brauchen ein möglichst breites Spektrum: Pfarrersfrauen, Vorsitzende von Wohltätigkeitsvereinen, Pfadfinderführerinnen« – hier schössen mir Bilder der nackten Mac durch den Kopf, sie zuckten auf wie die Flecke und Kleckse, die man auf der Leinwand sieht, bevor der eigentliche Film beginnt – »und natürlich auch Prostituierte.«
Sie wandte den Blick ab und zeigte mir ihr Profil. Ihr Haar war ein sanftes Flackern aus Licht und Schatten. »Hast du je mit einer Frau geschlafen?« Sie sprach zur Wand, flüsternd. »Außer mit mir?«
»Nein«, sagte ich, und ich weiß nicht, warum ich log, wo doch das ganze Ethos hinter unserem Projekt darauf abzielte, die menschliche Sexualität aus dem dunklen Keller zu holen, in den die
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