Dr. Siri sieht Gespenster - Cotterill, C: Dr. Siri sieht Gespenster - Thirty-Three Teeth
verfrachten.
Nach einer flüchtigen Begrüßung und dem obligatorischen »Heiß heute, was?«, »Verdammt heiß«, machte der Lärm jedes vernünftige Gespräch unmöglich. Und so verbrachte Siri den neunzigminütigen Flug in Gedanken. Er war unterwegs in jene Stadt, die für die wenigen Menschen im Rest der Welt, die überhaupt wussten, wo Laos lag, ebendieses Laos symbolisierte. Für ihn jedoch war es eine Reise in eine andere Zeit, ein anderes Land.
Er war um 2448 zur Welt gekommen, nach westlicher Zeitrechnung also im Jahre 1905. Es gab nur eine Person, die den genauen Zeitpunkt kannte, und die hatte ihr Geheimnis mit ins Grab genommen. Als er schließlich sein erstes Formular ausfüllen musste, entschied sich Siri für ein Datum, das seiner körperlichen Verfassung entsprach.
Hineingeboren wurde er in ein chaotisches Laos, das nur deshalb existierte, weil die französischen Kolonialherren es so wollten. Sie hatten auf der Landkarte hier und da einen Strich gezogen und die umschlossene Fläche zur Verwaltungseinheit
Laos ernannt, das fünfte Stück in Frankreichs Indochina-Sammlung. Was machte es da schon, dass sich in ihrem Netz auch etwa dreißig Volksgruppen verfangen hatten, die weder laotischer Abstammung noch den Franzosen treu ergeben waren? Wer Messerfische angeln will, erwischt eben manchmal auch den einen oder anderen Riesenwels.
Trotz dieser quasi mit dem Lineal gezogenen offiziellen Grenzen war Laos ein geteiltes Land. Der König regierte mit französischer Billigung die nördlichen Gebiete rings um Luang Prabang. Die südlichen Provinzen, einst ein eigenes Königreich, waren zehn Jahre zuvor von den Thais in die Hände der Franzosen übergegangen. Dort lebten nur wenige Menschen, die kaum etwas erwirtschafteten und den Invasoren folglich mehr Kopfschmerzen als Ausbeutungsgewinne bescherten. Doch da die Franzosen es auf fruchtbare Gebiete in Thailand abgesehen hatten, brauchten sie Laos als Sprungbrett. Inmitten dieser administrativen Wirren hatte Siri das Licht der Welt erblickt.
Die ersten acht Jahre seines Lebens waren ein mysteriöser weißer Fleck. Seine frühesten Erinnerungen drehten sich um eine Tante: eine Frau mit breiter Nase und steifem Rücken, die ihm nichts über seine Eltern erzählte. Und er wusste nichts von ihr. Sie war eine der wenigen gebildeten Frauen, und wenn sie sich nicht gerade um ihren Reis und ihre Tiere kümmerte, unterrichtete sie den Jungen in ihrer Rattanhütte.
Sie war eine humorlose alte Hexe, die etwa so viel Liebe in sich trug wie eine Klabusterbeere am Hintern einer Ziege. Doch Siris Wissensdurst war groß. Seither fragte er sich, ob er sich vielleicht nur deshalb so sehr angestrengt hatte, weil er sich ihre Anerkennung wünschte. Falls sie seine Mühe anerkannte, zeigte sie ihm das nicht.
Damals war er in Khammouan zu Hause gewesen, einer üppig bewaldeten Provinz am Fuß der Berge des Annamitischen Hochlandes. Doch als er zehn Jahre alt war, brach die Frau mit ihm zu einer zweitägigen Wanderung auf. Sie führte sie zu einer gepflasterten Straße, und eine solche hatte er noch nie gesehen. Aber das war nur die erste in einer ganzen Reihe von Sensationen. Auf einem Lastwagen holperten sie über die mit herrlichen Schlaglöchern übersäte Straße in eine Stadt. Sie hieß Savannaketh und lag am Ostufer des Mekong.
Die Frau hatte ihm wohl ein Dutzend Mal eingeschärft, den Mund zu halten, während sie ihn durch die Straßen und Gassen zerrte; aber für einen Jungen aus dem Busch war die Stadt ein wahres Wunder. Als sie den gesuchten Tempel schließlich gefunden hatten, setzte er sich auf die Mauer vor dem Portal, während sie im Refektorium mit dem Abt sprach. Als sie wieder herauskam, raunte sie ihm zu, er solle brav sein, und ging grußlos davon. Er sah sie nie wieder.
Der Junge, der nichts über den Buddhismus wusste, wurde geschoren, in ein kratziges, safrangelbes Gewand gesteckt und zum Novizen ordiniert. Er studierte die heiligen Schriften, bis sie ihm aus den Ohren quollen wie der Saft aus einem erntereifen Gummibaum, doch bald entdeckte er eine andere Welt des Wissens. Damals wurde auf Laotisch nicht allzu viel geschrieben, woran sich bis heute wenig geändert hatte. Um ein richtiger Gelehrter zu werden, musste er das Rätsel der Regale voller dicker Bücher lösen, die sich in einem kleinen Raum gleich hinter der Abtei befanden. Sie waren alle auf Französisch.
Madame Le Saux arbeitete als Missionarin in der winzigen Église St. Étoine
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