Drachen der Finsternis
Gedächtnis wie eine Pulverspur, er sah sie in Zeitlupe, sah sie immer wieder, noch lange danach, im Traum, und auch Jahre später:
Wie alles, was er immer wieder sehen würde, all das, was Niya getan hatte.
Schuss um Schuss schickte sie in die Nacht; Brieftauben ihrer tödlichen Botschaft. Die Antworten ließen nicht auf sich warten, doch sie wurden vereinzelter, und schließlich hüllte eine große, schwere Stille sie ein. Niya hielt die Pferde an.
Hinter ihnen gab es am Hang schwarze Flecken in der Stille. Flecken am Boden, wie Steine.
Sie waren ganz ruhig jetzt, ganz friedlich. Sie hatten Niyas Botschaft erhalten.
Die vier Pferde, die den Hang hinuntertrabten, waren reiterlos.
»Sie sind zu nichts gut in den Bergen«, sagte Niya. »Es ist die falsche Sorte Pferd. Kartan wird die Gesetze der Berge niemals lernen.«
Sie musterte Christopher, und obgleich er wieder die Augen niederschlug, spürte er ihren forschenden Blick über sein Gesicht wandern wie suchende, tastende Finger.
Und Christopher wusste nicht, vor wem er mehr Angst hatte –vor Kartan oder vor ihr.
Doch sie hatte sein Leben gerettet. Und ihr Blick hatte sich in sein Herz gegraben – es war ein Blick mit Widerhaken. Er konnte nichts dagegen tun, dass er jetzt in ihm nistete.
»Es ist einfacher, aber ich schieße nie auf Pferde«, erklärte sie. »Die Pferde können nichts dafür.« Dann streckte sie die Hand nach Christopher aus und hob sein Kinn sachte an, sodass er ihr in die Augen sehen musste.
Und zum ersten Mal fand er ein Lächeln darin. Es überraschte ihn, denn es war ein beinahe schüchternes Lächeln.
»Weshalb wollen sie dich unbedingt töten?«, fragte sie.
Niyas Rache
Sie ritten die ganze Nacht hindurch.
Der Schlaf glitt in Wellen über Christopher, unterbrochen von kurzen, unzusammenhängenden Träumen. Sein Zimmer kam darin vor, und die Gesichter seiner Eltern, doch er konnte keinen Sinn in ihrem Auftauchen und Verschwinden sehen.
Immer wieder schrak er hoch, orientierungslos in der Nacht, sah den dunklen Schatten der Reiterin mit dem wirren Haar vor sich und fiel zurück in die Nebel des Schlafs.
Manchmal dachte er im Traum daran, was er Niya geantwortet hatte. Meine Geschichte ist zu lang, um sie in einer Nacht wie dieser zu erzählen.
Und es war wahr.
Als er endgültig aufwachte, spielte die Sonne auf dem schweißglänzenden Fell ihres Pferdes.
Am Rande des Pfades, auf dem sie sich jetzt bewegten, wuchs graugrünes Fünfgeblätter, das Christopher als rauchbar und Jumar, amüsiert flüsternd, als Unkraut definierte.
Niya drehte den Kopf.
»Hast du etwas gesagt?«
»Ich? Nein.«
»Seltsam«, murmelte sie, und wenig später machten sie halt.
»Mein Pferd ist nie so langsam gegangen«, sagte Niya. »Es ist ein Wunder, dass wir überhaupt angekommen sind. Aber da sind wir.«
Christopher wich ihrem Blick aus. Das Pferd hatte die ganze Nacht über zwei Reiter getragen.
Vor ihnen erhob sich eine Handvoll Hütten aus dem Dunst des Morgens. Doch noch schienen die Menschen darin zu schlafen. Eine eigentümliche Stille lag über dem Ort.
Niya saß ab, und auch Christopher kletterte mühsam vom Rücken des Pferdes. Jeder einzelne Knochen in seinem Körper schien wehzutun, und bis jetzt war ihm nicht klar gewesen, wie viele Knochen er hatte.
Er hätte Jumar gerne etwas zugeflüstert, doch es war zu still ringsum. Sie hätte es bemerkt.
»Hier erfahren wir, wo die anderen sind«, sagte Niya. »Wir sind einen Umweg geritten, falls sie uns doch noch jemanden nachgeschickt haben. Die Soldaten. Aber ich habe keinen gesehen.«
Sie führten die Pferde am Zügel durch den kleinen Ort, und Christopher erwartete, Niya würde an irgendeine der Türen klopfen, wo ihre Männer eine Nachricht für sie hinterlassen hatten. Stattdessen tat sie etwas anderes.
Mitten im Dorf, mitten auf dem Sandweg, erhob sich eine schulterhohe Mauer, in der zu beiden Seiten je eine Reihe mes-singfarbener Gebetstrommeln glänzte: hutgroße Metallzylinder, geprägt mit großen, nepalesischen Buchstaben – ein Gebet auf jeder Trommel. Christopher hatte ein Foto von einer solchen Gebetsmauer in dem Bildband gesehen, und er hatte davon gelesen: In der Mitte lief ein Stab durch die hohlen Trommeln, manchmal umwickelt mit einer eng beschriebene Papierrolle, die ein längeres Gebet enthielt, aber in jedem Fall drehten sich die Trommeln um die Achse des Stabes. Man musste sich links von der Mauer halten, um mit der rechten Hand im Vorübergehen die
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