Drachen-Mädchen
»Was sagt Ihr da?«
»Das ist Humfrey!«
Irene mußte lachen. Doch als sie den ernsten Gesichtsausdruck der Gorgone unter ihrem Schleier wahrnahm, unterbrach sie sich. »Ich muß wohl einiges mächtig falsch verstehen!«
»Laßt es Euch vom Spiegel zeigen.« Die Gorgone holte einen magischen Spiegel hervor und lehnte ihn gegen eine Wand. »Wiederhole die Szene!« befahl sie.
Im Spiegel formte sich ein Bild: eine Dschungelszene. Ein tiefer Brunnen in einer Grube, dessen Wasser nicht floß, sondern an Ort und Stelle blieb. An seinem Rand war nur Sand zu erkennen; in einiger Entfernung war auch Bewuchs zu sehen, der einem merkwürdigen konzentrischen Muster folgte und weiter ab immer dichter wurde, bis er schließlich in der Ferne in hohen, ausgewachsenen Bäumen endete. Irgend jemand, dachte Irene, mußte sich eine Menge Mühe gemacht haben, dieses Gebiet zu säubern, um den Brunnen freizulegen, doch nun war die Vegetation wieder auf dem Vormarsch. Aber es war seltsam, daß sie nicht am dichtesten in der unmittelbaren Nähe des Wassers wuchs.
Ein Mann kam ins Bild geschlurft, alt und knorpelig und klein. »Humfrey!« rief Irene. »Wann kommt er denn endlich aufs Schloß zurück? Ich muß ihn unbedingt sofort sprechen!« Doch das Bild deckte sich nicht mit dem, was die Gorgone ihr soeben erzählt hatte. Wie erklärte sich das?
»Seht nur zu«, sagte die Gorgone mit angespannter Stimme.
Humfrey näherte sich mit übertriebener Vorsicht dem Bach. Er streckte eine an einem Stockende befestigte Flasche vor und entnahm dem Bach behutsam etwas Wasser. Als die Flasche gefüllt war, schüttelte er sie, so daß der Schnappverschluß einrastete.
»Gift!« rief Irene. »Das Gegenteil des Heilelixiers!«
»Falsch«, bemerkte die Gorgone.
Der Gute Magier schüttelte die Flasche, bis sie trocken war, und wickelte sie vorsichtig in ein riesiges Tuch. Dann zog er sich von dem Bach zurück, und das Bild des Spiegels folgte ihm.
Nun hatte er seinen fliegenden Teppich erreicht, auf dem sein Sohn Hugo saß, der genauso blöde aussah wie immer, vor sich einen Berg aus matschigem Obst. Die Sache mit Hugos minderwertigem Talent war jammerschade, dachte Irene. Ein wirklich hervorragendes Talent hätte die meisten seiner Benachteiligungen wettmachen können. Hugo versuchte es immer wieder, doch er konnte einfach kein heiles Obst herbeizaubern. Hugo mußte eine schlimme Enttäuschung für seine Eltern gewesen sein: so klein, so häßlich, so dumm und ohne jedes nützliche Talent – was sollte man dazu schon sagen?
Humfrey brauchte eine Weile, um den Stock zu verstauen. Er reichte Hugo die Flasche, wobei er eine Warnung aussprach – das Bild war zwar stumm, aber eindeutig –, um die Hände frei zu haben. Neben dem Jungen lag sein Beutel mit den Zaubern auf dem Teppich. Humfrey schleppte immer zahlreiche Zauber mit sich herum, wie Irene es mit Samen tat.
Der Stock, der anscheinend zusammengeschoben werden und eine kleinere Form annehmen sollte, klemmte. Mit einer irritierten Grimasse stemmte Humfrey ihn auf den Boden und drückte mit beiden Händen dagegen, um die teleskopartige Stange einzufahren. Nach und nach gelang es ihm, doch es dauerte seine Zeit, denn Humfrey war klein und alt, der Stock dagegen auf dem Höhepunkt seiner Widerstandskraft, die er auch weidlich zur Schau stellte. Er versuchte sein möglichstes, sich aus dem Griff des alten Mannes zu winden, wurde glitschig und machte den Versuch, wieder zu seiner vollen Höhe emporzuschießen, wenn Humfrey gerade versuchte, ihn fester zu packen. Doch schließlich hatte der Magier ihn zu einem Zylinder und schließlich zu einer Scheibe zusammengedrückt, die einer mundanischen Münze glich. Diese steckte er schließlich in die Tasche.
Plötzlich erbebte der Boden. Hugo legte die Hände über die Ohren, als wolle er sich vor dem entsetzlichen Geräusch schützen. Der Gute Magier Humfrey wirbelte herum, um sich der plötzlichen Bedrohung zu stellen. Das Bild des Spiegels schwenkte beiseite, und in ihm erschien…
»Der Spaltendrache!« schrie Irene entsetzt. »Dorthin ist er also geschlichen, nachdem er Schloß Zombie verlassen hat! Während ich nach Ivy suchte…«
Der Drache stürzte sich, Dampfwolken aus seinen Nüstern hervorspeiend, auf Humfrey und Hugo. Stumme Worte wurden geschrien, und der fliegende Teppich schwebte unvermutet in die Höhe. Hugo, der nicht angeschnallt war, verlor das Gleichgewicht und stürzte hinab. Der Teppich segelte in den Himmel empor und nahm
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