Drachen-Mädchen
eine Insel, die aus einem Wolkenmeer hervorragte. Wo sie auch hinschauten, überall erblickten sie die gleiche, wellige, weiße Oberfläche. In gewisser Weise war es ganz hübsch. Ivy verstand es, hübsche Anblicke zu schätzen, denn so war sie erzogen worden.
»Glaubst du, daß Imbri uns einen Tagtraum bescheren wird, daß wir mit einem fliegenden Teppich auf dieser Insel gestrandet sind und sie nie wieder verlassen können, bevor der Nebel sich senkt, so daß wir hier auf alle Zeiten verloren sind und immer nur Obst essen müssen?« fragte Ivy.
Hugo zuckte mit den Schultern. »Das bezweifle ich«, sagte er. Doch irgend etwas verschwand, wie der Schweif eines Pferdes zuckt, so als sei ein Tagtraum in letzter Sekunde wieder verblaßt, ehe er wirksam wurde.
Doch da schwebte eine kleine graue Wolke von der oberen Wolkenschicht herab und formte sich zu einem bösartigen Gesicht unter einer spitzen Krone. Das Gesicht öffnete den Mund, und ein leises Donnergrollen erscholl.
Da erschien auch schon die Tagmähre. Diesmal konnte Ivy sie deutlich erkennen. Es war ein schwarzes Pferd, kaum mehr als ein Schatten, mit flammender Mähne und einem ebensolchen Schweif.
»Sie will wissen, wer, zum Teufel, du bist«, sagte ein Zentaur in Ivys Kopf.
Überrascht und verwirrt von der Entwicklung, gab Ivy keine Antwort.
»So redet Imbri mit einem«, erklärte Hugo. »Sie gibt dir einen Traum, und die Traumgestalt spricht. Imbri kann nicht selbst sprechen, weil sie ein Pferd ist. Aber die Traumgestalten können es. Du mußt einfach nur antworten.«
Ivy war froh, daß Hugo so klug war und über all solche Dinge Bescheid wußte. »Dem Zentauren?«
»Nein, Dummian, der Wolke! Imbri dolmetscht sie.«
Ivy errötete wieder, als sie das Kompliment vernahm. Das war ihr alles ganz neu, aber sie glaubte, daß wohl alles mit rechten Dingen zuging. Es war nett von der Mähre Imbri, ihnen so zu helfen.
»Ich bin Ivy«, sagte sie zu der Wolke. »Und wer bist du?«
Die Wolke hielt einen Augenblick inne, dann verfinsterte sich ihr Gesicht, und sie ließ ein weiteres Donnergrollen erschallen. Ivy fürchtete sich ein bißchen, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen. Sie war sich nicht ganz sicher, daß Stanley dieses Ding würde verscheuchen können.
»Er meint, daß du eigentlich den König der Wolken erkennen müßtest, wenn du ihm begegnest, und daß du dich vor ihm in Ehrfurcht verneigen mußt«, sagte der Traumzentaur. Ivy senkte verlegen den Kopf und bohrte einen Zeh in die Erde. Verzweifelt versuchte sie sich zu überlegen, was wohl ›in Ehrfurcht verneigen‹ bedeuten mochte.
»Das ist schon besser«, meinte der Zentaur. »Die Wolke erkennt an, daß du dich vor ihr verneigst. Es ist seine Majestät Cumulo-Fracto-Nimbus, der Herr der Lüfte. Er meint, daß du ihn an irgend jemand erinnerst, den er nicht mag – an eine Frau mit grünem Haar.«
Ivy erkannte, daß damit wohl ihre Mutter Irene gemeint war. Sie wollte die Wolke schon fragen, wo sie sie gesehen hatte, als Hugo das Wort ergriff. »Ach, Fracto ist doch nichts als ein schäbiger Nebelfetzen«, sagte er verächtlich.
Die Wolke hörte das und bedurfte anscheinend keiner Übersetzung. Sie plusterte sich purpur-schwarz auf. Aus Seiner Majestät Nase schossen Blitze hervor, von einem rülpsenden Donnergrollen gefolgt und einem prasselnden Sprühregen.
Hugo mußte beiseite springen, um nicht versengt zu werden. Anscheinend waren Wolken sehr empfindlich, was Schimpfnamen anbelangte.
»Wie wagst du es, den Herrn der Lüfte als Nebelfetzen zu bezeichnen!« dolmetschte der Traumzentaur. »Er ist Fracto der König, eine echte Gewitterwolke!«
»Heiße Luft«, knurrte Hugo mit unvermutetem Witz. Dafür waren Ritter bekannt.
Die Wolke lief so schwarz an, daß sie schon fast ein Schwarzes Loch wurde.
Sie spie einen derartigen Nebelschauer hervor, der mit Donnergrollen vermengt war, daß sie sich dabei beinahe selbst umgestülpt hätte.
»Oh, jetzt hat Hugo ihn aber wirklich gereizt!« sagte der Traumzentaur. »Der König der Wolken ist äußerst hitzig und von stürmischem Gemüt. Flieht, bevor er zuschlägt!«
»Aber dort unten ist doch noch mehr Donner!« protestierte Ivy.
Der Fractokönig rüstete sich, um Hugo richtig anzuvisieren. Nun sah er aus wie ein riesiger Amboß. Doch bevor er einen vernichtenden Donnerschlag hervorhämmern konnte, trat Stanley vor und schoß ihm einen heftigen Dampfstrahl in sein schwammiges Hinterteil.
Jedes andere gewöhnliche Ungeheuer
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