Drachenauge
einen Blick auf ihre Notizen. »Zum Überleben benötigen die Fäden sowohl Sauerstoff als auch organische Materie. Im Wasser ertrinken sie binnen drei Sekunden.«
»Was passiert, wenn sich einzelne Fäden tief ins
Fleisch eingraben?«
»Innerhalb eines Körpers sterben sie gleichfalls nach drei Sekunden ab. Muskelfleisch enthält nicht genü-
gend freien Sauerstoff, den sie für die Stoffwechselvor-gänge brauchen. Auch Eis kann die Beweglichkeit ein-dämmen, aber das steht natürlich nicht immer zur Verfügung.«
»Angenommen, wir haben es irgendwie geschafft,
den Organismus aufzuhalten, aber der Verletzte hat
schwere Verbrennungen erlitten, eventuell mussten wir sogar amputieren. Was am effektivsten hilft, ist Taubkraut und immer wieder Taubkraut. Ein Segen, dass der Planet diese Heilpflanze hervorgebracht hat. Im Falle einer Amputation wird natürlich das Standardverfah-ren angewendet, einschließlich Kauterisation. Dadurch wird auch ein eventuell vorhandener Rest der Fäden zerstört. Gegen Schock empfehle ich Fellis – falls der Patient noch bei Bewusstsein ist.«
Abermals zog sie ihre Merkblätter zu Rate. »Tomlinson und Marchane unterstreichen, dass bei Verwundungen durch Fäden eine hohe Sterblichkeitsrate infolge von Herzversagen oder Schlaganfall auftritt. Lao, der bis zum Ende des Vorbeizugs des Roten Sterns praktizierte, beschreibt, wie Patienten, die nur leicht 194
verletzt waren und sogar erfolgreich therapiert wurden, an traumatischem Schock starben. Wenn Sie Ihre Bo-dengruppen vorbereiten, schärfen Sie den Leuten unter allen Umständen ein, dass Verletzungen durch Fäden wirksam behandelt werden können.«
»Sofern wir rasch genug bei dem Verwundeten ein—
treffen«, ergänzte jemand trocken.
»Aus diesem Grund ist es ja so wichtig, dass genug
medizinisches Personal die Boden-Crews begleitet.
Und dass in jeder Burg, in jeder menschlichen Ansiedlung, Kurse in Erster Hilfe abgehalten werden. Die Anzahl ausgebildeter Mediziner lässt sich nicht quasi über Nacht vermehren. Doch wir können vielen Leuten beibringen, wie sie sich im Ernstfall zu verhalten haben, und dadurch den Schaden eingrenzen.« Nach einer kleinen Pause fuhr sie fort: »Außerdem müssen die Leute begreifen, dass jeder, der nicht gerade an einem aktiven Einsatz beteiligt ist, in einem Schutzraum zu bleiben hat, bis Entwarnung gegeben wird.
Nun kommen wir zu den Verletzungen, die bei Drachen auftreten, denn auch die werden wir behandeln
müssen. Die Drachen und ihre Reiter haben den Vorteil, dass sie ins Dazwischen gehen und den angreifenden Organismus erfrieren lassen können. Doch gegen die bereits eingetretenen Verwundungen ist das natürlich wirkungslos.
Die umfangreichsten Blessuren tragen die Drachen
an ihren Schwingen davon … Wenn ich dann mal bitten dürfte, Balzith.« Sie wandte sich an den geduldig wartenden grünen Drachen, der gehorsam einen Flügel ab-spreizte, damit die Ärztin ihre Ausführungen am lebenden Objekt demonstrieren konnte.
Während der Lunchpause, nach der sie andere Probleme wie Hygiene und sanitäre Einrichtungen diskutieren wollten, da die kleinen und mittleren Festungen über keine so umfangreichen Einrichtungen verfügten wie die wirklich großen Niederlassungen, gesellten sich 195
Joanson von Süd-Boll und Frenkal von Burg Tillek, beide erfahrene Mediziner, zu Corey.
»Corey, wie stehen Sie zu … äh … der Anwendung
von Euthanasie?«, fragte Joanson in sehr nachdenklichem Ton.
Eine geraume Zeit lang musterte sie prüfend den
groß gewachsenen Mann. »Dazu habe ich keine feste
Meinung, Joanson. Wie Sie wissen, befinden sich unter den Kursteilnehmern einige Leute, die keine umfassen-de medizinische Ausbildung genossen haben. Von diesen kann ich keine Maßnahme verlangen, die mir selbst anzuwenden sehr schwer fallen würde. Ich spreche hier von Sterbehilfe.« Dann widmete sie sich Frenkal.
»Wir haben geschworen, Leben zu erhalten. Aber wir
sind gleichfalls durch einen Eid verpflichtet, unseren Patienten eine gewisse Lebensqualität zu gewährleis-ten.« Ihre Lippen zuckten, als sie daran dachte, dass diese beiden Ziele zuweilen miteinander in Konflikt gerieten. »Jeder von uns sollte sich Gedanken darüber machen, wie wir in einer verzweifelten Situation handeln würden. Ich finde, Todesqualen zu verkürzen ist erlaubt und ethisch absolut vertretbar. Ich glaube nicht, dass wir im Ernstfall die Zeit haben, um über Moral, Ethik, Grausamkeit oder Gnade
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