Drachenblut
warten, bis sie sich an die rollenden Bewegungen des Schiffs gewöhnt und ihre Höhenangst überwunden hatte; um die Spitze des höchsten Mastes zu erreichen, musste sie die Jakobsleiter 1 hinaufentern und dann über die Salinge balancieren, beidseitig am Mast befestigte Rundhölzer, welche die Wanten querschiffs spreizten. AuÃerdem galt es, einen unbeobachteten Augenblick abzupassen, denn sich den Wind um die Nase wehen zu lassen war nur ihr erstes Ziel.
Langsam lieà sie die Arme wieder sinken und zog vorsichtig den Beutel, den sie über einer Schulter hängen hatte, vor sich auf den SchoÃ. Sie holte das Zeichenbrett heraus, auf das bereits ein Blatt Papier gespannt war, und griff nach dem Holzkohlestift, den sie mit einer Schnur an dem
Brett befestigt hatte. Inmitten all dieser Grautöne, in denen sich die Welt Lorana präsentierte, begann das Mädchen mit schnellen Strichen zu zeichnen.
Das Licht der aufgehenden Sonne bot ihr die Chance, die Skizze immer wieder, je nach Helligkeitsgrad, zu überarbeiten und ihr Bild mit der Realität des majestätischen Ozeans zu vergleichen. Die Sonnenscheibe stand knapp über dem Horizont, als Lorana endlich mit ihrer Arbeit zufrieden war und fand, an dem Werk gäbe es nichts mehr zu verbessern. Und das wurde auch höchste Zeit, sagte sie sich, denn ihre Finger schmerzten in der Kälte des frühen Morgens.
»Ahoi, du da droben!«, rief eine Stimme zu ihr herauf. »Wie wird der Tag?«
»Eine leichte Brise, vereinzelte Wolken, roter Himmel«, erwiderte Lorana. Sie verstaute ihr Malzeug im Beutel und kraxelte den Mast hinunter. Von Deck hörte sie lautes Stöhnen.
Sie begab sich nach achtern zum Steuer, wo Colfet, in Gesellschaft von Baror, Ruderwache hielt. »Was hast du an dem Wetter auszusetzen?«, fragte sie den knurrigen Baror, der seinem Unmut durch Stöhnen Ausdruck verliehen hatte.
Baror verzog säuerlich das Gesicht und spuckte gekonnt über die Reling. »Wir kriegen Wasser ins Boot«, lautete seine kryptische Antwort. Lorana hob die Brauen.
Baror schüttelte den Kopf. »Eine alte Seemannsregel lautet: âºAbendrot â schön Wetter Bot! Morgenrot schlägt Wasser ins Boot!â¹ Ein Sturm zieht auf, aber das wusste ich bereits.«
Von seinen Schiffskameraden hatte Lorana gehört, dass Baror sich vor Jahren den Arm gebrochen hatte, und wenn die alte Bruchstelle in einer bestimmten Art und Weise schmerzte, stand ein Wetterumschwung bevor.
»Hoffentlich erreichen wir den Hafen, ehe er uns einholt«, fügte er hinzu und rieb sich den Arm.
Lorana rückte ein Stück von dem mürrischen Seebären ab. Von den drei Maaten an Bord war Baror der unsympathischste. Ständig setzte er eine erbitterte oder ärgerliche Miene auf. Eine Zeit lang hatte sie sich gefragt, ob die Schmerzen in seinem Arm ihm vielleicht die Laune verdarben, doch dann gelangte sie zu dem Schluss, dass Baror einfach von Natur aus ein Querulant und Griesgram war.
Drunten auf Deck merkte Lorana, dass die Gischt stärker geworden war, und sie zitterte vor Kälte. Sie schickte sich an, in das Schiffsinnere zu klettern, doch dann hielt sie inne und blickte noch einmal Baror an. Der Mann fixierte sie mit einem eigentümlichen Gesichtsausdruck, als sähe er sie zum ersten Mal. Hastig drehte sie sich um und setzte den Abstieg fort.
Auf der Laufplanke kam ihr Kapitän Tanner entgegen.
»Guten Morgen«, grüÃte er.
Lorana nickte und ging weiter; plötzlich gab es auf Deck einen lauten, dumpfen Knall, gefolgt von einem schmerzerfüllten Stöhnen und einer Reihe von derben Verwünschungen â zuerst fluchte Colfet und dann Baror.
»Lorana!«, rief Baror mit scharfer Stimme. »Komm sofort an Deck! Colfet hat sich verletzt!« Ein wenig leiser, aber immerhin so vernehmlich, dass jeder ihn verstehen konnte, murrte er: »Verflixt, wer wird mich jetzt ablösen?«
»Beeil dich!« Tanner hetzte los und forderte sie mit einem knappen Kopfnicken auf, ihm zu folgen.
»Zuerst muss ich meine Medizintasche holen«, erklärte Lorana und sauste nach unten in ihre Kabine.
»Gute Idee«, pflichtete Kapitän Tanner ihr bei.
In weniger als zwei Minuten war Lorana wieder an Deck, eingehüllt in einen warmen Mantel, in der Hand ihre Heilertasche mit den Utensilien, die sie benötigte. Ein bisschen Taubkraut dämpfte Colfets Schmerzen und stellte
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